Radio Brod: Redefreiheit in der Adria

Ein ausführlicher Rückblick von Martin van der Ven (März 2025)

Radiostationen auf Schiffen in internationalen Gewässern (oft fälschlich Piratensender genannt) werden seit Jahrzehnten mit Pop- und Rockmusik verbreitenden Rundfunksendern in der Nordsee wie Radio Caroline oder Radio Veronica assoziiert. Entsprechend beschäftigen sich zahllose Publikationen mit dem hinlänglich bekannten Phänomen. Doch im Jahr 1993 tauchte mit Radio Brod (“Radio Schiff”) inmitten im schlimmsten bewaffneten Konflikt in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg eine gänzlich andere Radiostation auf, die von dem Sendeschiff Droit de Parole (“Rederecht”) vor der Küste Ex-Jugoslawiens vor allem Signale zur Verständigung und zum Frieden in der kriegserschütterten Region verbreitete. Es handelte sich um einen im Jahr 2025 leider in Vergessenheit geratenen Sender, dessen Bedeutung auch drei Jahrzehnte später nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

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Der politische Hintergrund

Nach dem Fall der Berliner Mauer begann 1991 die „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“ (SFRJ) mit ihren sechs Teilrepubliken Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Slowenien und Montenegro auseinanderzufallen, wobei einzelne religiöse und ethnische Gruppen jeweils größere Gebietsanteile und politische Vorherrschaft beanspruchten. Dies führte zu einem Bürgerkrieg, der oft als Balkan-Krieg bezeichnet wird und ein Jahrzehnt andauerte. Es prallten lang unterdrückte nationale und religiöse Identitäten aufeinander. Konflikte zwischen Serben (überwiegend orthodox), Kroaten (überwiegend katholisch) und Bosniaken (überwiegend muslimisch) eskalierten in heftigen Auseinandersetzungen, in denen ethnische Säuberungen, systematische Vertreibungen und massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren. Ganze Bevölkerungsgruppen litten unter dem Verlust von Heimat, Identität und Vertrauen. Geplagt von Hunger, Kälte und Angst erlebten die Menschen in Kellern und Ruinen zum wiederholten Male einen bitteren Kriegswinter.

Unzählige Waffenstillstandsverhandlungen scheiterten, und nahezu alle großen Städte und Ortschaften in Serbien, Kroatien sowie Bosnien-Montenegro wurden durch Bodenkämpfe und Luftangriffe zerstört. Eine riesige Zahl von Menschen in der Region wurde getötet oder obdachlos.

Im auseinanderbrechenden Jugoslawien gerieten die Bewohner unterschiedlicher Ethnien während der kriegerischen Auseinandersetzungen zunehmend in den Strudel nationalistischer Gewalt und Desinformation. Die für ein gesundes kulturelles Leben unerlässliche Kommunikationsverbindung brach nahezu vollständig zusammen. Als unabhängige und ungefilterte Informationsquellen kamen nur die ausländischen Radiostationen Voice of America, BBC, die Deutsche Welle und Radio France Internationale in Betracht, die Programme in serbokroatischer Sprache verbreiteten.

Map of war in Yugoslavia, 1993
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Map_of_war_in_Yugoslavia,_1993.png
English Wikipedia user swPawel, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons

 

Die Idee und die Sponsoren

Immer mehr jugoslawische Journalistinnen und Journalisten litten unter einem repressiven Arbeitsklima in ihrer Heimat und emigrierten nach Paris. Unter ihnen war auch die frühere montenegrinische Zeitungsredakteurin

Dragica Ponorac

Dragica Ponorac, die früher beim unabhängigen montenegrinischen Wochenmagazin „Monitor“ gearbeitet hatte. Gemeinsam wollte man objektive Nachrichten in das ehemalige Jugoslawien senden, um die durch Propaganda und Fehlinformationen geschürte Paranoia zu beenden. Die Planungen wurden auch durch ein früheres Seesenderprojekt inspiriert: So sollten im Frühjahr 1990 politische Rundfunksendungen für China von Bord des Schiffes „Déesse de la Démocratie“ beginnen. Das frühzeitige Scheitern dieses ambitionierten Projekts ließ die Ideengeber nicht entmutigen. Alsbald wurde ein geeignetes Sendeschiff gesucht. Zunächst wird ein in Ungarn stationierter Sender in Betracht gezogen. Doch man gibt diesen Plan rasch auf, weil man Sabotageakte fürchtet. Alternativ dachte man auch an Radio Carolines Sendeschiff ‚Ross Revenge‘, für das das britische Department of Transport aber keine Freigabe erteilen wollte. Ende Februar 1993 berichteten dann französische Zeitungen erstmals vom neuen Sendeschiff Droit de Parole (Rederecht), das von der gleichnamigen, im August 1992 gegründeten nichtkommerziellen Pariser Organisation gechartert und in Marseille ausgerüstet wurde.

Besonders der polnische Bürgerrechtler und Politiker Tadeusz Mazowiecki setzte sich als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über die Lage der Menschenrechte für die Idee einer unabhängigen schwimmenden Radiostation für das zerfallende Jugoslawien ein. So müsse es dringend freie Informationen und eine „Eindämmung der Aufstachelung zum Hass“ geben. Entsprechend forderte er das „Recht auf eine Medienintervention“ im ehemaligen Jugoslawien.

Zu den Befürwortern des Projekts zählten auch Persönlichkeiten wie Susan Sonntag, Nagib Mafuhz und Elie Wiesel.

Als Geldgeber für das Radioprojekt fungierte vorrangig die Europäische Kommission, die im Dezember 1992 mit 1,2 Mio. ECU und im Juni 1993 mit 1,0 Mio. ECU zuwies (bezüglich der exakten Summe widersprechen sich allerdings die Angaben in den verschiedenen Quellen). Im Spätherbst 1993 erhielt Radio Brod weitere Finanzmittel von der Europäischen Kommission und dem Büro für humanitäre Soforthilfe, sodass der Sendebetrieb bis Februar 1994 fortgesetzt werden konnte. Aber auch von Danielle Mitterands Stiftung France Libertés und dem Generaldirektor der UNESCO Federico Mayor Zaragoza kam finanzielle Unterstützung außerdem von einer anonymen britischen Organisation sowie von verschiedenen Pressegruppen in den USA, darunter Washington Post, New York Times und das PEN American Centre.

Ursprünglich war zu Anfang 1993 auch eine Finanzierung durch den damaligen französischen Minister für Gesundheit und humanitäre Hilfe, Bernard Kouchner, in Aussicht gestellt worden. Nach den französischen Parlamentswahlen im März 1993 und dem damit verbundenen Regierungswechsel wurde dieses Angebot jedoch zurückgezogen. Die neue Regierung vertrat die Auffassung, dass Offshore-Radio-Projekt verstoße gegen internationale Vorschriften und Übereinkommen.

 

Das Radioschiff

Die Fort Reliance wurde 1985 von Appledore Ferguson Shipbuilders Ltd im Hafen von Glasgow als Versorgungsschiff gebaut. Im Jahr 1989 erfolgte der Umbau zum Polarschiff durch „San Giorgio del Porto“ in Genua (Italien). Das Schiff wurde für antarktische Vermessungsarbeiten eisverstärkt und mit Feuerlöschgeräten ausgestattet. Im selben Jahr wurde die Fort Reliance in Cariboo umbenannt.

Für das Radio Brod-Projekt wurde das Schiff im Kai 114 des Bassin d’Arenc in Marseille zu einem Radioschiff umgebaut und dann von der Compagnie Nationale de Navigation (CNN) für 7.000 £ pro Tag gechartert. Ein 28 Meter hoher Antennenmast wurde installiert. Er erinnerte an eine Miniaturversion des Eiffelturms und thronte auf einem weißen Container, der mit Bullaugen versehen war.

Das Schiff wurde in Droit de Parole umbenannt. Die gleichnamige, im August 1992 gegründete unabhängige, nichtkommerzielle Pariser Nichtregierungsorganisation, charterte das Radioschiff. Ihre offizielle Adresse war ein Postfach (BP 6, 75922 Paris Cedex 19). Die tägliche Miete des Schiffes samt Besatzung betrug 55.500 französische Francs.

Erste Sicherheitsmaßnahmen begannen schon, als die Droit de Parole noch im Hafen von Marseille lag und zum Sendeschiff umgebaut wurde. Ein ehemaliger Kampftaucher kontrollierte wiederholt, ob nicht, wie einst am Greenpeace-Schiff “Rainbow Warrior”, ein explosives Päckchen am Schiffsrumpf angebracht ist.

Technische Daten:

Gesamtlänge: 65,36 m
Breite: 12,80 m
Höhe: 5,35 m
Bruttoraumzahl: 1597 Tx

2 „MIRRLEES“-Motoren mit jeweils 3083 BHP
Gesamtleistung: 6166 BHP bei 1000 U/min
2 Propellerwellen, 2 Verstellpropeller
1 Bugstrahlruder mit 500 BHP, Schubkraft 5,5 T
3 Generatoren mit je 300 kW, angetrieben durch 3 Dieselmotoren mit je 300 kW bei 1800 U/min

Verbrauch 20 m³/Tag bei maximaler Geschwindigkeit von 14 Knoten
Verbrauch 12,3 m³/Tag bei Wirtschaftsgeschwindigkeit von 12 Knoten
Reichweite: 10.550 Seemeilen bei 12 Knoten

Deckslast: 500 T
Decksstärke: 5 T/m²
Tragfähigkeit: 950 T
Treibstoff: 495 m³
Trinkwasser: 300 T
Ballastwasser: 530 T

2 geschlossene Rettungsboote vom Typ „WATERCRAFT“ für je 32 Personen
4 Rettungsinseln für 25 Personen + 2 für je 12 Personen
2 Anker + 1 Ersatzanker je 1140 kg

63 Kojen
2 Messen mit Fernseher
1 Aufenthaltsraum + 1 Besprechungsraum
Voll klimatisierte Unterkünfte

Hubschrauberlandeplatz für Alouette, Lama oder Ecureuil

Das französische Außenministerium verweigerte die Genehmigung, unter französischer Flagge zu fahren. Als Vorwand wurde die Sicherheit der französischen Blauhelme angeführt. Die Droit de Parole wurde daraufhin in Kingstown registriert, der Hauptstadt des Inselstaats St. Vincent und die Grenadinen. Das Gerücht, das Schiff solle alsbald unter der Flagge der Kerguelen registriert werden, bewahrheitete sich nicht.

Das Radioschiff befand sich in internationalen Gewässern in der Adria irgendwo zwischen Bari (Italien) und Dubrovnik, ging jedoch nicht vor Anker, sondern fuhr aus Sicherheitsgründen weiter die Adria auf und ab. Die Position wechselte ständig, und der Kurs wurde geheim gehalten. Nur per Funkkontakt oder durch Zufall war das Sendeschiff zwischen dem 17. und 18. Längengrad und dem 42. Breitengrad in der Adria zu finden. Die Techniker suchten unablässig nach einem Standort, der eine optimale Ausbreitung des Sendesignals gewährleisten sollte. Der Kapitän korrigierte die kaum wahrnehmbare Drift des Schiffes und achtete auch auf die Empfangsberichte der Korrespondenten an Land, um die Droit de Parole immer wieder neu zu positionieren.

Die Bevorratung erfolgte von Bari aus, beispielsweise mit dem Motorboot „Hamra“. In Bari gab es auch eine Büroadresse: Via Dante 46 LA, Bari 70123.

Hier ein Mitschnitt des Funkverkehrs mit der “Hamra”:

Nach Beendigung des Projekts wurde das Schiff Anfang März 1994 nach Marseille zurückgebracht, wo die gesamte Sendeausrüstung entfernt und an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben wurde.

Im selben Jahr wurde die Droit de Parole von der Firma Veesea gekauft und in Veesea Pearl umbenannt. Unter diesem Namen diente sie als Sicherheits-Standby-Schiff in der Nordsee-Ölindustrie. Im Jahr 2000 wurde sie an Seahorse in Irland verkauft und erhielt den Namen Pearl. Seit 2016 trägt das Schiff den Namen KARADENIZ POWERSHIP REMZI BEY und fährt unter liberianischer Flagge. Seit 2020 ist das Schiff außer Dienst gestellt.

© Pascal RITEAU – https://www.shipspotting.com/photos/1280656

 

Die technische Ausrüstung

Die Droit de Parole verfügte über einen 50 kW-Mittelwellensender, der dem Projekt von Telediffusion France (TDF) gespendet worden war und zuvor von Sud Radio in Andorra genutzt worden war. Man sendete auf 720 kHz (417 m). Ein 10-kW-FM-Sender wurde auf 97.8 MHz eingesetzt. Bei der Antenne handelte es sich um einen endgespeisten Typ, der an der Spitze des A-förmigen Mastes befestigt war.

Radio Brod stach am 31. März 1993 von Marseille aus in See. Testsendungen starteten am 7. April 1993 um 23:00 Uhr.

Zunächst kam es zu Störungen durch das bordeigene Schiffsfunkgerät, sodass die Droit de Parole nach wenigen Tagen in den Hafen zurückkehren musste, um das Problem zu beheben. Gleichzeitig wurde auch ein Sturmschaden am Schiff repariert.  Am 17. April 1993 fuhr das Schiff wieder aufs Meer hinaus, und die Sendungen von Radio Brod wurden kurz darauf fortgesetzt. Die offiziellen Sendungen – ab dann rund um die Uhr – begannen am 1. Juni 1993.

An Bord der Droit de Parole entstanden zwei Studios – ein Sendestudio und ein Produktionsstudio – sowie zwei Schnitträume. Die Journalistinnen und Journalisten kommunizierten über eine Inmarsat-Satellitenanlage sowie über Seefunk, Mobiltelefon und eine Direktfunkstrecke mit ihren Kontakten im ehemaligen Jugoslawien und in anderen Ländern.

Die Droit de Parole verfügte über:

2 VHF-Funkgeräte „SAILOR RT 144C“
4 tragbare VHF-Funkgeräte „ICOM IC MSF“
1 SATNAV „MAGNAVOX MX 4102“
1 GPS „Raystar 590“
2 Radargeräte 3 cm „DECCA RM 1216 G“
1 Kurzwellen-Radiotelefon „SAILOR 800 W Type T 1127“
1 Kurzwellen-Radiotelefon „Sailor 400 W“
1 Satelliten-Kommunikationssystem (INMARSAT)
„J.R.C JUE 45 A“ (Telefon – Telex – Telefax)
1 Faxempfänger für Wetterkarten „KODEN Fx7181“

Wegen der Hochspannung auf den weitgespannten Antennendrähten konnte es zu Kurzschlüssen kommen. Die Leitungen, die vom Sender zum Sendemast führen, lagen bloß. An Bord herrscht Elektrosmog.

Die Feldstärke des 50-Kilowatt-Mittelwellensenders war so stark, dass sie auf die mitgebrachten Geräte durchschlug. Dieses Problem hatten auch die Kamerateams, die an Bord filmten. Ihre Kameras wurden in Alufolie eingepackt, die die Strahlung abschirmte.

Ab und zu blitzte es über den Köpfen, doch Gewitterromantik kam nicht auf. Dass die Feldstärke des Senders auch zu gesundheitlichen Schäden führen konnte, war den Redakteuren bewusst, die einige tote Vögel an Bord beiseiteschafften.

Sie hoffe, dass sie wenigstens im Container vor der Strahlung sicher seien, sagte Redakteurin Maja Razović.

Bis zu 20 Menschen lebten auf dem Radioschiff auf engstem Raum zusammen, ohne nennenswerten Komfort. Wer vom untersten Deck zur Kantine gelangen wollte, musste sich durch enge Gänge an dröhnenden Maschinen vorbeiquetschen. Trotz des Lärms, der sogar durch die schweren Stahltüren drang, wurde um leise Schritte gebeten – denn zwischen der Kantine und dem Maschinenraum schlief ein Teil der Schiffsbesatzung. Steile Treppen, die eher an metallene Leitern erinnerten, führten zu den beiden oberen Stockwerken. Aus den schmalen, nach Maschinenöl riechenden Gängen zweigten die Kabinen der Radiomacher und ihrer Gäste ab: Ein Etagenbett, ein kleiner Schreibtisch, dazu eine Duschkabine mit WC – alles auf sechs Quadratmetern. Auch das Sendestudio, dessen Ausstattung äußerst provisorisch wirkte, bot kaum mehr Platz. Ohne eine Glasscheibe zur Abtrennung gestalteten die Moderatoren gemeinsam mit zwei französischen Technikern direkt vor Ort das Radioprogramm. Der Lärm der Schiffsmotoren war allgegenwärtig. Im benachbarten Telekommunikationsraum schnitten Redakteure die Beiträge der Auslandskorrespondenten mit, die über Satellit, Funktelefon oder Kurzwelle vom Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens übermittelt wurden. Eine Etage darüber lag der größte Raum des Containers – die Redaktion. Hier wurden Artikel verfasst, Zeitungsausschnitte gesichtet und am Abend die tägliche Redaktionskonferenz abgehalten. Das Leben an Bord war von emsiger Betriebsamkeit geprägt. Niemand hätte beim Anblick der Radiomacher – in Jeans, T-Shirts und Badelatschen – vermutet, dass es sich um erfahrene Journalisten handelte, die in ihrer Heimat einst Ansehen genossen. Das Radioschiff glich einem Experimentallabor, seine Besatzung wirkte wie eine Gruppe von Abenteurern. Doch ein Blick auf die Lebensläufe der Beteiligten zeigte, dass dieser Eindruck keineswegs abwegig war.

Hier ein Mitschnitt aus dem Studio:

 

Die Protagonisten

Die Anzahl der Mitarbeitenden an Bord schwankte und lag meist zwischen 15 und 20 Personen unterschiedlichster Berufsgruppen – stets mindestens sieben bis acht Journalisten, dazu Tontechniker, Musikredakteuren, Übersetzer und technische Mitarbeiter. Unter den Journalisten waren auffallend viele Frauen, mitunter schienen sie gar in der Mehrzahl. Auf eine gendergerechte Sprache soll in diesem Text aber verzichtet werden.

Das Radioschiff erweckte mitunter den Eindruck eines 66 Meter langen und 13 Meter breiten Klein-Sarajewos zu Friedenszeiten. Die Redaktion an Bord setzte sich aus einem multiethnischen Team von Kroaten, Serben, Muslimen, Slowenen, Montenegrinern und Makedoniern zusammen. Hinzu kam ein eigenes, weitverzweigtes Netz von unabhängigen, oft anonym oder im Verborgenen arbeitenden Korrespondenten, das an die 50 Mitarbeitende umfasste und sich über alle ex-jugoslawischen Republiken erstreckte. Die Korrespondenten berichteten zum Teil unter größter Lebensgefahr. Mithilfe des Satellitentelefons konnte man mit Ihnen live an Bord Interviews zu führen. Ihre Beiträge waren oft Chroniken der Ohnmacht, überlagert von metallischen, sich entziehenden Stimmen, durchsetzt von Piep-Tönen, ausgesendet von Funkamateuren auf der Einseitenband-Frequenz (BLU). Sie berichteten über die Gräueltaten in Gorazde, Vitez und Travnik in Bosnien sowie über Gefechte an der dalmatinischen Küste. Diese unabhängigen Journalisten gehen große Risiken ein. Einer von ihnen war schneller als die Nachrichtenagenturen: Er meldet als Erster, dass die Innen- und Verteidigungsminister der bosnischen Regierung gerade ausgetauscht wurden.

Hören Sie einen Live-Bericht von Mehmet Agović (Radio-Brod-Korrespondent in Sarajevo):

Das Journalistenteam auf der Droit de Parole (unbekannter Fotograf)

Insbesondere dieses Korrespondentennetz war einzigartig und wurde von keinem landgestützten Radiosender erreicht: Täglich wurde Verbindung zu Zagreb, Belgrad, Sarajevo, Mostar, Split und vielen anderen Orten aufgenommen. Für die Redakteure galt der Korrespondent in der bosnisch-serbischen Stadt Banja Luka als der tapferste von allen – angesichts der dort herrschenden bedrohlichen Atmosphäre und seiner kritischen Haltung gegenüber den lokalen Behörden.

Hier ein Beispiel für den Funkverkehr mit einem Korrespondenten:

Das Radio Brod-Team umfasste nicht nur angesehene und bekannte Journalisten aus allen kriegführenden Regionen des ehemaligen Jugoslawien – römisch-katholische, orthodoxe Christen sowie Muslime. Aus Frankreich stammten der Kapitän Thierry Lafabrie und der Radiotechniker Jean- Pierre Grimaldi. Die gemischte Crew setzte sich aus Franzosen und Indern zusammen.

Den Mitarbeitenden aus Ex-Jugoslawien war gemeinsam, dass sie als Radio-Fachleute entlassen worden waren oder es an ihrem eigenen Sender nicht mehr aushielten, als dort in den vergangenen Jahren der neue totalitäre Wind des lokalen Nationalismus aufkam. Einzelne hatten darüber hinaus persönliche Gründe für das raue Leben auf See, wie etwa eine Mitarbeiterin, deren Freund in Italien erschossen worden war. Hier an Bord existierte Jugoslawien noch: Die verschiedenen Dialekte dessen, was einst Serbokroatisch genannt wurde – an Land inzwischen zu drei separaten Sprachen (Kroatisch, Serbisch und Bosnisch) erklärt – wurden auf dem Sender brüderlich durcheinander gesprochen.

Das Jugoslawien an Bord der Droit de Parole war jedoch ein Jugoslawien im Mollton. „Wochenlang sitzen wir hier beieinander“, erzählte eine Redakteurin aus Kroatien, während bei Windstärke sechs Kaffeetassen und andere Gegenstände durch den Redaktionsraum flogen, der zugleich als Gemeinschaftsraum diente. „Abwechselnd kriegt jeder mal eine Krise, sei es wegen der Sorgen um die Heimat oder wegen der allgemeinen Aussichtslosigkeit der Situation.“

An keinem Mitarbeitenden war der Krieg im ehemaligen Jugoslawien spurlos vorbeigegangen, doch an Bord war die Stimmung meist entspannt. Eine beliebte Freizeitbeschäftigung war das Schwimmen mit den schelmischen Delfinen, die oft um das Boot herum auftauchten. Sie waren die liebste Gesellschaft, die das Herz dieser freiwilligen Exilanten erwärmte.

Natürlich war das Leben an Bord kein Zuckerschlecken. Die Journalisten leisteten 16-Stunden-Schichten unter der glühenden Sommersonne und der ständigen Möglichkeit eines Torpedoangriffs. Doch die wagemutigen Reporter lassen sich nicht einschüchtern. In ihren freien Stunden sonnten sie sich auf der Landeplattform des Schiffs (bekannt als „der Strand“).

Im Folgenden sollen verschiedene Mitarbeitende von Radio Brod zu Wort kommen, die im Zeitraum 1993-94 zum Teil ausführlich in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehbeiträgen interviewt wurden.

Dževad Sabljaković war bei Radio Brod als Chefredakteur tätig und koordinierte sowohl die internen Ressourcen als auch ein weit verzweigtes Netzwerk von Korrespondenten aus den verschiedenen Regionen der ehemaligen SFRJ. Vorher arbeitete er von 1990 bis zum Beginn des Krieges als Chefredakteur des neu gegründeten und ersten unabhängigen alljugoslawischen Fernsehsenders YUTEL. Nach dessen Schließung berichtete er als Korrespondent für RFI aus dem kriegszerstörten Sarajevo. Während seiner Zeit bei Radio Brod reist er zwischenzeitlich durch Europa, um Spenden zu sammeln.

Wie in anderen Ostblockländern hatte das kommunistische Regime Jugoslawiens den nationalistischen Regierungen seiner Nachfolgestaaten ein Medienmonopol hinterlassen, dessen sie sich freizügig bedienten. Ob Presse, Funk oder Fernsehen, fast in alle Medien hielt die nationalistische Ideologie der jeweiligen Machthaber Einzug. Die Redaktionen fielen dem zum Opfer, was weithin als „ethnische Säuberung” bezeichnet wird, und all diejenigen Journalisten und Redakteuren, die für ihre Objektivität und Unparteilichkeit bekannt waren, wurden im Namen des Notstandes und des Kriegszustandes entlassen. Die wenigen unabhängigen Medien, die sich auf lokaler Ebene bildeten, wurden geschlossen. Wo sie noch existieren, werden sie über Einschüchterungsversuche und Boykott in ihrer Arbeit behindert. Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen wurden fast ausschließlich zum Sprachrohr ultranationalistischer Regierungen.

Dževad Sabljaković

Als Chefredakteur bei Radio Brod war Sabljaković somit in einer einzigartigen Lage. Es gab zahllose arbeitslose Journalisten, die sich dem Druck nicht beugen und ethische Grundsätze nicht aufgeben wollten. So konnte er auf die Besten seines Fachs zurückgreifen und mit ihnen sein ambitioniertes 24-Stunden-Programm bestreiten.

Für ihn hatten sich die einzelnen Republiken längst in hermetisch abgeriegelte Räume verwandelt: „Niemand in Zagreb weiß mehr, was in Belgrad passiert“, sagte er in einem Interview. Er verglich die Arbeit seiner Redaktion mit der von Feuerwehrleuten: „Wir wollen das Feuer des Hasses löschen, wir stehen auf keiner Seite. Die Menschen müssen wieder miteinander reden und in Frieden zusammenleben.“

„Wir haben gute Journalisten aus ganz Jugoslawien ausgewählt… Wir haben nur diejenigen genommen, die für die nicht staatlich kontrollierte Presse gearbeitet haben.“ „Auf diesem Schiff sind nur normale Menschen – das macht uns zu Dissidenten.“ “Wir hatten bisher keinen einzigen Streit”, beteuerte Sabljaković. “Nationalistische Standpunkte gibt es hier nicht”, erklärt der Mitfünfziger sein Erfolgsrezept.

„Alle Journalisten hier wollen Demokratie in allen Republiken Ex-Jugoslawiens. Sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, würde die Fortsetzung des Medienkrieges bedeuten, der schon vor dem eigentlichen Kriegsbeginn herrschte. Deshalb versuchen wir, sehr distanziert zu sein, fast wie Fremde.“ Das gelte auch für die Korrespondenten.

„Unsere Korrespondenten”, sagte er, “sind nicht nur unter dem Kriterium des Professionalismus ausgewählt worden, sondern auch nach ihrem moralischen Profil. Viele von ihnen haben zuvor bei den offiziellen Medien gearbeitet und ihren Job wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber den nationalistischen Regierungen verloren.“

Auf die Frage, ob es nicht vielleicht doch die eine oder andere nationale Meinungsverschiedenheit an Bord gebe, donnerte Sabljakovićs slawische Bassstimme ein entschiedenes „Nein” heraus. Seine Leute zeichne die „Macht der Distanz“ aus, sagt er. Sie seien kritisch gegenüber ihren eigenen Regierungen. Darüber hinaus hätten sie die nötige Selbstsicherheit und professionelle Souveränität, um kleinkariertem nationalistischen Geplänkel zu widerstehen. 

Die damals 30jährige bosnisch-muslimische Redaktuerin Mirna Imamović war in Sarajevo eingeschlossen. Ihr gelang dann die Flucht. Auf dem Radioschiff leitete sie die Sendung „Desperately Seeking“ mit Nachrichten von Geflüchteten, die man vor Ort entweder schriftlich oder mündlich aufgezeichnet hatte. So konnten sich Angehörige und Freunde, die in Flüchtlingslagern in ganz Europa lebten und das Programm hörten, über den Verbleib ihrer Lieben informieren – manchmal kam es sogar zu Wiedervereinigungen. Imamović sagte, man habe die tatsächliche Tragweite dieses Angebots erst erfasst, als ein Dankesbrief eintraf. Darin berichtete ein Mann aus Trebinje in Bosnien und Herzegowina, dass er dank Radio Brod seine verwaisten Enkelkinder in einem dänischen Flüchtlingslager wiedergefunden habe.

Rückblickend erinnerte sich Imamović in einem Interview mit dem italienischen Sender Rai 3 daran, dass es zu jener Zeit kaum noch funktionierende Telefonleitungen zwischen den Republiken des auseinanderbrechenden Jugoslawiens gab.

„Ich habe hier direkten Telefonkontakt mit allen Flüchtlingscamps. Ich lese die sehr persönlichen Briefe der Flüchtlinge im Radio vor in der Hoffnung, dass der gewünschte Empfänger diese Nachricht auch hören kann. Dies ist für viele Menschen die einzige Möglichkeit sich miteinander in Verbindung zu setzen, ja ein Lebenszeichen zuschicken. Manchmal sitzen wir alle weinend im Studio, denn es gibt so viele Kinder, die seit einem Jahr überhaupt nicht wissen, ob ihre Eltern noch am Leben sind.“ „Hier an Bord gibt es keine ethnischen Spannungen, nur berufliche Eitelkeiten.“

Mirna Imamović fand in ihrem Job Erfüllung. Acht Monate nachdem sie ihre Heimat in Grbavica – der serbisch gehaltenen Ausbuchtung, die ins Zentrum von Sarajevo ragt – verlassen hatte, schaltete ihre Mutter, eine der wenigen dort verbliebenen Muslime, ihr Transistorradio ein und hörte Radio Brod auf 720 kHz. In den letzten Sekunden von „Desperately Seeking“ hörte sie, wie der Name ihrer Tochter im Abspann als Produzentin vorgelesen wurde.

„Die Nachrichten von Flüchtlingen sind das Wichtigste, was wir tun“, sagte Mirna, die seit dem Sendestart dabei war. Sie verbrachte ihre Tage damit, Flüchtlingslager anzurufen und Stimmen aufzuzeichnen. „Es ist nicht wichtig, was die Nachricht sagt. Es zählt nur die Stimme. Kannst du dir vorstellen, nach einem Jahr nicht zu wissen, ob dein Kind oder deine Frau tot oder am Leben ist, und dann plötzlich ihre Stimme zu hören, die sagt: ‚Mir geht es gut. Ich bin hier. Ich habe genug zu essen‘? Das ist greifbar.“

Nachdem ihre Mutter erfahren hatte, dass Mirna noch lebte, schaffte sie es, ihr einen Brief zukommen zu lassen – ein serbischer Freund brachte ihn nach Belgrad, schickte ihn an Mirnas Bruder in Moskau, der ihn dann an die in den Sendungen von Radio Brod angegebene Nummer faxte. „Wenn es uns auch gelingt, alle zwei Monate einen Fall zu haben, dann ist das was“, sagte Mirna. „Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Bis dahin wusste ich nicht einmal, ob meine Mutter noch am Leben war.“  

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„Wenn zwei oder drei dieser Aufrufe pro Sendung irgendetwas bewirken, wäre ich schon zufrieden“, sagte der Programmmacher Konstantin Jovanović, ein ehemaliger Redakteur des Fernsehsenders TV Sarajevo, der selbst aus Sarajevo stammte und seit Beginn im April 1993 an Radio Brod beteiligt war. Er war selbst Flüchtling und wartete zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern, die sich in Kroatien aufhielten, auf ein Visum für Frankreich. „Das Wichtigste ist, dass dieses Radio weitersendet“, murmelt er.

Jovanović war für die Programme für Flüchtlinge verantwortlich.
„Alle Flüchtlinge sind gleich und gehören zur selben Familie“, sagte er. Die Journalisten und Redakteuren teilten die gleichen Probleme wie ihre Zuhörer: verlorene Heimat, Trennung von Familien und die Ungewissheit, wohin sie zurückkehren könnten. „Ich versichere, dass die Mehrheit der Menschen in Sarajevo und Bosnien daran glaubt, dass ein gemeinsames Leben notwendig und möglich ist. Aber sie können es nicht offen sagen. Sie haben Angst.”

Der damals 37jährige Kroate Darko Rundek war einer der bekanntesten Musiker des ehemaligen Jugoslawiens, ein Rockstar und ehemaliger Direktor von Radio Zagreb. Auch er fragte sich, wie groß wohl sein unsichtbares Publikum tatsächlich war. Erst im Nachhinein erfuhr er, dass sich die Menschen um ihre Radios versammelten, um das Programm gemeinsam zu hören. „Daran erinnere ich mich am liebsten“, sagte er, „wir haben unser Publikum fröhlich gemacht.“ „Dieser Krieg wurde durch Fehlinformationen geschaffen. Wir versuchen, die Dinge ins rechte Verhältnis zu setzen, damit die Menschen vielleicht wieder miteinander kommunizieren können.“ „Wir müssen in die Zukunft schauen, nicht zurück.“

„Wir haben keine politischen Probleme“, sagte er, während er die Schallplatten für seine Abschiedsparty nach fünf Monaten an Bord sortierte. „Aber wir haben Probleme, die vielleicht daraus resultieren, dass manche Menschen gewisse nationale Eigenschaften haben. Man darf das nicht als Fortsetzung des jugoslawischen Ideals sehen. Ich bin Kroate und stamme aus einer Familie, die sich schon immer als Kroaten gesehen hat.“

Dragica Ponorac

Dragica Ponorac, die ehemalige stellvertretende Direktorin des unabhängigen montenegrinische Wochenmagazins Monitor, hatte zwei Bombenanschläge überstanden und war schließlich nach Paris gezogen. Dort wurde sie Generalsekretärin der unabhängigen Organisation „Droit de Parole”.

„Dieses Schiff stört alle: Die Meinungsfreiheit ist heute das größte Problem in Jugoslawien.“ „Die UN-Konvention wurde von den Mitgliedsstaaten abgeschlossen, um gegen kommerzielle Radiosender vorzugehen, die von internationalen Gewässer aus ihr Programm verbreiten, doch wir haben eine humanitäre Mission”, sagte die energische Tochter eines Serben und einer Kroatin. „Wir kämpfen für die Würde des professionellen Journalismus, für eine Beendigung des Krieges und die Wiederaufnahme des Dialogs. Für die Kommunikation zwischen den Menschen und Familien, die der Krieg auseinandergerissen hat. Dies alles gibt unserem Projekt eine moralische Legitimation.“

Humanitäre Hilfe, erklärte sie, bestehe nicht nur aus Lebensmittellieferungen. Auch die Redefreiheit sei „eine humanitäre Notwendigkeit. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass wir durch eine UNO-Resolution das Recht der Medieneinmischung erwirken für Fälle, wo die Probleme so schwerwiegend sind wie im ehemaligen Jugoslawien.” 

Die Kroatin und Kunstwissenschaftlerin Maja Razović verlor im Jahr 1992 gleich zweimal ihre Anstellung. Zuerst wurde ihr wegen “subversiver Tätigkeit” gekündigt, dann wurde ihr nächster Arbeitgeber, das Wochenmagazin “Novi Danas” durch überhöhte Druckkosten und per Verteilungsboykott in die Knie gezwungen. Dennoch wäre sie in Zagreb geblieben.

„Es ist nur, dass ich am kroatischen Medienhorizont kein neues Projekt aufgehen sah, und das Angebot, auf diesem Radioschiff mitzuarbeiten, war sehr interessant. Das ist eine Herausforderung für jede(n) Journalist(in).” Was ihr leicht über die Lippen kommt, fiel ihr schwer. Sie habe Sorge gehabt, gestand sie, auf eine Arche Noah zu kommen, wo man ihr ständig vorhalte, dass jeder Kroate ein Mitglied der faschistischen Ustascha sei.

„Man darf nicht vergessen, dass es von Sommer 1991 an unmöglich war, nach Belgrad zu telefonieren. Es gab keine Briefe, keine Zeitungen, kein Fernsehen, nichts. Und dann zwei Jahre lang nur ein Meer von Blut.” Wie sie ihre Angst verloren habe? „Metaphorisch gesprochen, genügte schon die Entscheidung ins Meer zu springen.”

An Bord habe sie so manche Überraschung erlebt. So habe sie beispielsweise einen wütenden Kommentar geschrieben, als die Serben in Banja Luca eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert zerstört hatten. Der Kommentar habe den normalen Weg über den Tisch des diensthabenden Redakteurs genommen, an jenem Tag ein Serbe. “Da stand dieser Kerl auf und gab mir einen Kuss, ein Serbe küsste eine Kroatin, weil die etwas nicht sehr Nettes über die Zerstörung muslimischer Bauwerke schreibt.”

„Ich denke nicht, dass der Sender den Krieg beenden, die professionellen Normen ändern oder einen plötzlichen Respekt für die Menschenrechte einführen wird“, räumte sie ein. Sie verglich die Funktion des Radios mit den Lebensmittelabwürfen der UNO über Bosnien. “Natürlich glaubt kein normaler Mensch, dass damit jeder einzelne hungrige Mensch versorgt wird. Aber symbolisch gesehen ist das sehr wichtig, weil das diesen Arschlöchern, die die Konvois nicht passieren lassen, zeigt, dass es auch andere Wege gibt.“ 

Nikifor Simsić, 49jähriger Journalist aus Sarajevo, arbeitete als technischer Produzent der Station. Mit großem Engagement schnitt er täglich die neuesten Berichte über Beschuss und zivile Opfer zusammen. Seine Frau und die Kinder waren noch in Sarajevo. Er verwies auf seine eigene Familie als Beispiel für die Sinnlosigkeit des Krieges: „Mein Vater ist Serbe, meine Mutter ist Katholikin, meine Frau ist Muslimin. Also, was sind meine Kinder?“

Der damals 49jährige Serbe Lazar Stojanović war ein prominenter Journalist, Anti-Kriegs-Aktivist und Dissident des früher sozialistischen Jogoslawiens.

“Wir sehnen kein neues Jugoslawien herbei; niemand denkt, dass es realistisch ist, es wiederherzustellen. Und alle von uns ohne Ausnahme sind sich der Schwächen des früheren Jugoslawiens bewusst. Wenn uns also jemand beschuldigt, dass wir uns Jugoslawien zurücksehnen, dann ist das völlig falsch.

Wir haben tausende von Witzen gerissen, aber es gab überhaupt keine Meinungsverschiedenheit. Die einzige Auseinandersetzung erlebte ich am Schachbrett.

Wir stellen jeden Missbrauch, jede Manipulation und jede Verfolgung von Minderheiten heraus, egal wer sie sind, was ihre Religion ist und zu welcher Bevölkerungsgruppe sie gehören. Deshalb treffen wir auf eine größere Ablehnung durch die Serben als durch die Kroaten, obwohl wir versuchen objektiv zu sein.

Aber ich denke mit der Zeit, wenn wir eine stärkere Verbindung zu den unabhängigen Medien in Serbien haben werden, dass diese Feindlichkeit abnehmen wird. Außerdem waren mein Freund Srđan Kusovac von Radio B92 – der jüngste Starjournalist aus Belgrad – und ich sowieso nie wohlgelitten bei den Autoritäten und der nationalistischen Opposition in Belgrad. Wenn wir irgendwo an die Mikrofone kamen, witterten sie immer Gefahr.

Nicht nur die Mehrheit der Serben sondern auch einige Diplomaten in- und außerhalb der europäischen Gemeinschaft würden sagen – und das ist eine Art Mode -, dass die verfrühte Anerkennung von Kroatien, Slowenien und Bosnien zum Krieg geführt hat. Ich denke das Gegenteil. Ich denke, dass tatsächlich die späte Anerkennung die Bundesarmee und die Serben dazu ermutigt hat, so zu handeln, wie sie es tun. Darüber hinaus genügt es nicht, jemanden formal anzuerkennen. Man muss den Anerkannten auch beschützen. Und Europa war nie genügend vereint und willens zu intervenieren. Und auf der anderen Seite war es nicht dazu bereit, die Angelegenheit den USA zu überlassen. Die Anerkennung war also nicht mit militärischem Beistand verbunden, was die Tür für die anhaltenden Angriffe und den Bürgerkrieg in Bosnien öffnete.

In einer Situation wie in Bosnien und überall dort, wo es Bürgerkriege vergleichbaren Ausmaßes gibt, kann niemand die Gegend verlassen, wie er will, sei er Bosnier, Serbe oder Kroate. Und wenn man nicht gehen kann, kann man auch nicht sprechen, kann man nicht der herrschenden Regierungsideologie widersprechen.”

Lazar Stojanović erinnerte sich später: „Wir trafen uns in Paris im April 1993: Fünf Journalisten, drei Assistentinnen und zwei Musikredakteure (Darko Rundek und Vedran Peternel) bereiteten sich auf das Einschiffen vor. Es war ein Versuch – sowohl ein gemeinschaftlicher als auch ein individueller jedes Einzelnen von uns – mit unseren Mitteln auf den Krieg in unserer Heimat zu reagieren.“ 

Mirjana Dizdarević, Übersetzerin und Musikredakteurin an Bord, hatte in Sarajevo alles zurückgelassen. Sie moderierte früher eine klassische Musiksendung bei Radio Sarajevo und setzte dies nun dreimal pro Woche auf der Droit de Parole fort. Sie betonte: „Jugoslawien existiert nicht mehr, aber wir werden trotzdem miteinander leben müssen.“ Musik kenne weder Nationalismus noch Grenzen, sondern spreche eine universelle Sprache spreche und könne damit nur vereinen. 

Petar Savić, ein damals 25jähriger Tontechniker, der früher bei Radio B92 in Belgrad arbeitete, hatte gerade seinen Einberufungsbefehl in Serbien erhalten.

Die 43jährige Serbin Jasmina Teodosijević war angesehene ehemalige Auslandsredakteurin der Belgrader Tageszeitung Borba. Der Großteil der Crew des Senders stimmte Teodosijevićs Behauptung zu, dass „im ehemaligen Jugoslawien viel weniger Hass, Wut und Groll herrscht, als man sich vorstellen kann.“ Und es sei ihre Aufgabe, dies zu beweisen. „Wir schaffen es hoffentlich das Informationschaos zu beseitigen. Denn neben dem realen Krieg haben wir gleichzeitig einen Informationskrieg. Wir kämpfen gegen den Propagandakrieg. Als Journalisten haben wir die Aufgabe die Menschen zu informieren.“ 

Der gebürtige Kroate Vedran Peternel lebte seit 15 Jahren in Paris. Für drei Monate war der 26jährige als „Leihgabe” von Radio France International an Bord der Droit de Parole. Als der Krieg in Bosnien begann, befand sich Peternel zwei Wochen lang für RFI in Zagreb.

„Ich informierte mich in den örtlichen Medien über die Geschehnisse. Nach zehn Tagen sollte ich einen Bericht nach Paris durchgeben, und bevor ich telefonierte, las ich ihn mir noch einmal durch.” Peternel war über seinen eigenen Bericht erstaunt und gestand freimütig: „Ich fragte mich, was ich da geschrieben hatte. Selbst ich, der ich in Frankreich lebe und mich nur für 14 Tage in Kroatien aufhielt, war von dieser Propaganda und Desinformation angesteckt. Man kann sich also vorstellen, was die Medien bei den Leuten bewirken, die ihnen ständig ausgesetzt sind.” 

Auch der serbische Journalist Srđan Kusovac konnte von dieser Art Medienlandschaft ein Lied singen. Bevor er als Redakteur für das Radioschiff angeheuert wurde, arbeitete er als Moderator für das unabhängige Belgrader Lokalradio “B92″. Seiner Meinung nach ließ sich der Krieg im ehemaligen Jugoslawien nur auf dem Wege der Demokratisierung beenden, und darin sah er seine Aufgabe als Journalist.

„Man muss den Menschen dort die Möglichkeit geben, auch eine andere Seite zu hören, damit sie niemand für seine Politik instrumentalisieren kann. Wir behaupten nicht, diejenigen zu sein, die als einzige die Wahrheit wissen, sondern wir möchten einfach andere Informationen geben.“

„Wenn die Kriegsherren hierherkämen, würden sie Toleranz lernen“, scherzt er. 

Srđan Karanović, ein bekannter Filmregisseur aus Belgrad, wollte eines Tages einen Film über die Katastrophen machen, die sein Land heimsuchten – jedoch nur, wenn er „eine Crew aus allen Teilen Jugoslawiens“ einsetzen könne.

Wenn nach Einbruch der Dunkelheit ein unbekanntes Schiff auf dem Radarschirm auftauchte, war sofort Betriebschef Pierre Vierl zur Stelle, um die Bullaugen zu verdunkeln und alle überflüssigen Lichter zu löschen.

„Alles ist seltsam hier“, sagte er mit gelassener Stimme, „und sobald ein unbekanntes Schiff in unserer Nähe auftaucht, ob Frachtschiff oder Fischkutter, dann müssen wir aufpassen, was es wirklich sein könnte. Aber außer einer Drohung, als ein Mann im Gespräch mit den Radioleuten sagte, dass er etwas gegen das Schiff unternehme, hatten wir bisher kein wirkliches Problem.” 

„Das Richtige tun“ – genau dies war wohl das Ziel der gesamten Besatzung. Doch in Kriegszeiten moralische Grundsätze zu wahren bedeutet, Stellung zu beziehen und sich angreifbar zu machen. Gerade deshalb verlor Svetlana Lukić ihre Stelle als Korrespondentin für das serbische Radio und Fernsehen: Ihre Berichterstattung über den Krieg gegen Kroatien war zu unabhängig und passte nicht zur offiziellen Linie. Sie dachte wehmütig an diese Zeit zurück und sah darin das Symbol eines persönlichen wie generationellen Scheiterns. Man habe die Gewalt stoppen und Gegeninformationen liefern wollen, doch das sei ein Kampf gegen Windmühlen gewesen: Die Pazifisten hätten verloren, „die Nationalisten haben gesiegt und das Land zerstört, sie sind direkt verantwortlich für den Krieg und heute an der Macht“. Das entwerte alles, was man in dreißig Jahren Aktivismus aufgebaut habe.

Das Sendeschiff Droit de Parole (unbekannter Fotograf)

Ines Sabalić, die aus Zagreb stammte und für einen Verlag in Split arbeitete, hatte dort freiwillig gekündigt: Mit dem Ausbruch des Krieges hatte sich das Klima verändert; es gab keinen Platz mehr für kritische Stimmen. „Journalismus ist keine Mission, sondern ein Beruf. Also lasst uns professionell bleiben“, erklärte sie. „Das hier ist eine bewusste Entscheidung – kein Boot für ein paar Exzentriker“.

Chefredakteur Veselin Tomović, einst bei Radio Titograd (Montenegro) äußerte sich zu dem häufigen Besuch internationaler Kolleginnen und Kollegen an Bord „Davon wurde man wirklich verrückt. Sie haben jeden mindestens dreimal interviewt. Und immer wieder diese Frage: ‚Warum wird bei Ihnen zu Hause geschossen, was glauben Sie?“

„Zwischen denen, die das Verbrechen begangen haben, sich hinter den Nationalismen zu verschanzen, und denen, die Opfer dieses Krieges wurden“, erklärt der Essayist Rajko Cerović, der 25 Jahre lang beim montenegrinischen Fernsehen tätig war, „hat sich der Journalismus als die Sprache des Äsop erwiesen – das Beste und das Schlechteste zugleich, im Dienst des Krieges oder der Wahrheit.“

Goran Vesić, der als Verstärkung aus Split gekommen war, wo er eine kleine Nachrichtenagentur gegründet hatte, gestand seine „Jugonostalgie“, wenn er von dieser Gemeinschaft an Bord sprach – auch wenn er wusste, dass die Zukunft keine „Jugofuturisten“ zulassen würde.

„Technisch gesehen sind wir ein Piratensender“, räumte der Kapitän Thierry Lafabrie ein, „aber die Gesetze sind unzureichend. Wir tun das Richtige.“

„Die Art von Problemen, die man überall hat, wenn eine Gruppe von Menschen auf einem Boot festsitzt, das nur im Kreis fährt“, sagte Gilles, der (französische) Zweitingenieur. „Für uns ist es schon schwierig genug, nirgendwohin zu segeln, aber wenigstens sind wir ans Meer gewöhnt. Für sie [die Journalisten] ist es viel schlimmer. Bis wir letzten Mittwoch anlegten, waren wir 40 Tage auf See. Das ist eine lange Zeit, wenn man es nicht gewohnt ist.“

Politische Debatten waren an Bord nicht wirklich en vogue – höchstens mal Scherze während der vielen Stunden, in denen man auf die nächste Aufgabe wartete. „Im Sommer ging es noch“, erzählte eine anonym bleibende Redakteurin. „Da lagen wir auf unserem ‚Strand‘, dem Achterdeck.“ Sie selbst, eine Kroatin, hatte sich an Bord in einen serbischen Kollegen verliebt. „Man kann sich denken, dass es damals durchaus spürbare nationale Spannungen an Bord gab.“

 

Die Programminhalte

Da sich Radio Brod an die Bürger eines einst gemeinsamen Landes richtete, das nun vom Krieg zerrissen war, diente es Zuhörern, die nach Informationen suchten, die nicht von nationalistischer Kriegspropaganda und Ideologie geprägt waren – wie es bei den Fernsehsendern der Hauptstädte der ehemaligen Republiken der Fall war.

Neben dem physischen Krieg tobte ein weiterer – ein Medienkrieg. Während sich die großen Medienzentren zunehmend radikalisierten und nationalistische Narrative verstärkten, blieben objektive und unabhängige Informationen hauptsächlich auf Radiowellen und in den Diensten internationaler Nachrichtenagenturen zugänglich.

Jeder Akteur versuchte, die mediale Landschaft zu kontrollieren, wobei Radio- und Fernsehfrequenzen selbst zum Schauplatz eines neuen Konflikts wurden. Schuldige wurden ausschließlich auf der feindlichen Seite gesehen, sodass das Publikum in jeder ehemaligen Republik eine einseitige, politisch und ideologisch gefärbte Darstellung des Krieges erhielt. Der Hass zwischen den verfeindeten ethnischen und nationalen Gruppen wurde durch die Medien zusätzlich geschürt.

Radio Brod bot hochwertige, überprüfte, präzise und ausgewogene Informationen für ein Publikum, das in den Strudel der Kriegspropaganda geraten war und Manipulationen ausgesetzt wurde. Die Ereignisse wurden so dargestellt, wie sie sich tatsächlich vor Ort abspielten, und die wichtigste Voraussetzung für die Berichterstattung über ein Ereignis war die Wahrheit.

Die Hauptnachrichtensendung wurde abends um 21:30 Uhr ausgestrahlt und enthielt Informationen aus allen sechs Republiken des ehemaligen Jugoslawiens. Kurznachrichten wurden zu jeder vollen Stunde gesendet. Zudem gab es täglich drei ausführliche Nachrichtensendungen am Vormittag, Nachmittag und Abend. Welche Sprache – Serbisch, Kroatisch oder Bosnisch – verwendet wurde, hing zum Teil vom Inhalt der Meldungen ab. Zusätzlich strahlte man zweimal täglich Nachrichten in Englisch und Französisch aus, hauptsächlich für Angehörige der UNPROFOR- Schutztruppe der Vereinten Nationen in der Region.

Hier ein Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung:

Grundlage sind die per Satellit auf dem Schiff empfangenen Meldungen von Reuters und AFP sowie des World Service der BBC, darüber hinaus wurde das italienische Fernsehen RAI Uno als Quelle benutzt. Hinzu kamen die telefonisch übermittelten Beiträge der zahlreichen Korrespondenten im ehemaligen Jugoslawien sowie in Genf, New York, Washington und Paris. Radio Brod betrieb auch mit dem brandneuen deutschen Satellitenradio „MDR-Sputnik”, dem ehemaligen „Jugendradio DT 64″, einen Austausch von Informationen und Musikprogrammen. Am 13. und 14. Mai 1993 sendete MDR Sputnik live vom Radioschiff. Zwei deutsche Journalisten (Ulrich Klaus und Martin Breuninger) waren an Bord.

Nach Angaben von Klaus sendete Radio Brod täglich zwei Stunden für die UNO-Truppen („Blue Helmets“): eine Stunde Französisch, eine Stunde Deutsch. Das Programm werde offensichtlich von den Truppen zur Kenntnis genommen und – soweit Reaktionen vorlagen – begrüßt.

Dževad Sabljaković: „In speziellen Sendungen verbanden wir Menschen von gegnerischen Seiten, übermittelten Botschaften, stellten Kontakte wieder her, ermöglichten Live-Gespräche zwischen Zuhörern. Zudem boten wir Kulturprogramme sowie ein sehr vielfältiges und modernes Musikprogramm an. Deshalb wurden wir auch im benachbarten Italien viel gehört.“

Pero Jurišin: „Die Ereignisse selbst „diktierten“ das Programm. Nachrichten waren heilig. Die Journalistinnen und Journalisten hatten bereits jahrelange Erfahrung, waren versierte Reporter und hatten einen ausgeprägten Instinkt. Deshalb war es auch nicht nötig, dass irgendjemand von oben anordnete, dass Branka Vujnović Predrag Matvejević „anspricht“, als dieser live einen wunderbaren Essay anlässlich der Zerstörung der Alten Brücke (Mostar) verfasste. Unsere Präsenz auf allen Seiten des Konflikts sowie unsere Zusammenarbeit ermöglichten es uns, Entwicklungen zu erkennen und damit auch den journalistischen Handlungsbedarf – unabhängig von der Form der Berichterstattung.“

In Paris wurde eine Telefonnummer eingerichtet, damit Korrespondenten und Hörer innerhalb und außerhalb Jugoslawiens Nachrichten an Verwandte und Freunde weitergeben konnten, zu denen während des Krieges der Kontakt abgebrochen war. Dieser Nachrichtendienst entwickelte sich zu einem wesentlichen Bestandteil des Programms. Bald entstand die schon erwähnte tägliche Sendung über vermisste Personen mit dem Titel „Desperately Seeking“, eine erschütternde, monotone Litanei verzweifelter Stimmen auf der Suche nach Angehörigen. Viele Frauen ohne Nachrichten von ihren Männern, manchmal sogar von ihren Kindern. Einmal standen zweihundert Menschen vor einer Telefonzelle in Wien an.

Diese Anrufe aus ganz Europa (Italien, Österreich, Dänemark, Kroatien, Frankreich usw.) zeichneten in Negativform eine geographische Landkarte des Grauens, die Umrisse einer terra incognita, deren dunkle Zonen einem Schauer über den Rücken jagten: Srebrenica, Travnik, Gorazde, Vitez usw. Tausende solcher Nachrichten erreichten Radio Brod.

So konnten sich Angehörige und Freunde, die in Flüchtlingslagern in ganz Europa lebten und das Programm hörten, über den Verbleib ihrer Lieben informieren – manchmal kam es sogar zu Wiedervereinigungen. Parallel zu dieser humanitären Vermittlungsarbeit sendet Radio Brod psychologische Unterstützungsprogramme für Kinder, die verletzlichsten und am stärksten betroffenen Opfer dieses Krieges.

Ein weiterer zentraler Programmpunkt war die einstündige Sendung „Exodus“, die dreimal pro Woche ausgestrahlt wurde und Geflüchteten in spe praktische Hinweise zu Visumspflichten, Reisemöglichkeiten, Kontakttelefonnummern und erforderlichen Qualifikationen für die Arbeitssuche außerhalb des ehemaligen Jugoslawiens bot. Auch gab es praktische Hinweise zum Asylverfahren.

Die Sendung informierte über rechtliche Bestimmungen für Flüchtlinge im Ausland und die Bedingungen für den Aufenthalt. Zudem gab es Ratschläge zur Anpassung an neue Länder und übermittelt persönliche Nachrichten.

Rap, Soul, Raï (algerische Volksmusik), Acid Jazz, Techno, Rock: Mit neunhundert Schallplatten im Gepäck – einige davon gespendet von Radio Nova und Polygram – boten die beiden Musikredakteure Vedran Peternel und Rundek Darko den 15- bis 35-Jährigen an der Küste das, was sie dort sonst nie zu hören bekommen. Auch Musik diente bei Radio Brod als Mittel zur Übermittlung von Botschaften – kulturell, ästhetisch und gesellschaftlich engagiert. In den Musikprogrammen der schwimmenden Radiostation spiegelten sich die politischen Entwicklungen wider. Darko Rundek war ein halbes Jahr lang Musikredakteur bei Radio Brod und betreute das Format Planet Ear, eine Art „radiofonische Science-Fiction“, bei der die Hörerinnen und Hörer ihrem tristen Alltag entfliehen und auf „verschiedenen Klangplaneten“ reisen. Rundek weigerte sich, die Musik des allzu kurzlebigen kulturellen Erwachens Zagrebs in den 1980er Jahren zu senden, damit sie nicht bei den kroatischen Hörern nationalistische „Nostalgie“ wiedererweckte.

Darko zeichnete nicht nur für die Musikgestaltung von Radio Brod verantwortlich, sondern war auch Schöpfer der Programm-Jingles der schwimmenden Radiostation, die in passender Weise die Ernsthaftigkeit und Dramatik der damaligen Situation widerspiegelten und eben alles andere als fröhlich klangen. Ein unmissverständliches Beispiel: Möwenschreie, Motorengeräusche, Sirenentöne – “Radio Brod schaut euch zu.”

„Oh nein, nicht schon wieder Harry Belafonte“, rollte Jasmina Teodosijević mit den Augen. Goran, ein kroatischer Redakteur aus Split, seufzte, als „Island in the Sun“ erklingt. „Einmal sind wir in Sichtweite der kroatischen Inseln gesegelt und haben dieses Lied gespielt“, schüttelte Goran Vesić mit einem kräftigen Seufzer den Kopf. Er war schon seit drei Monaten an Bord. Petar Savić sprang auf: „Kroatische Inseln, was? Das sind unsere Inseln.“ Gelächter in der Runde.

Michael Nicholson (ITV) berichtete live von Bord: „Vor Kurzem spendete das französische Radio 1.000 CDs, aber keine hat bislang das Lieblingslied der Station verdrängt: Bob Dylans „Blowin’ in the Wind“. Und nur wenige Songs passen besser.“

 

Die Jingles von Radio Brod

 

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Die Unterbrechung

Radio Brod hatte ursprünglich am 1. Juli 1993 ein Solidaritätskonzert von Herman Brood and his Wild Romance live aus dem Amsterdamer Paradiso übertragen wollen.

Doch schon im Juni 1993 – zwei Monate nach der ersten Ausstrahlung – hatte Belgrad einen juristischen Vorwand gefunden, um das Projekt zu stoppen. Die serbischen Behörden riefen förmlich die Internationale Fernmeldeunion (ITU) an und warfen Radio Brod den unerlaubten Gebrauch einer Frequenz vor, die Jugoslawien zugewiesen war. Angeblich störe der Piratensender die ordnungsgemäßen Sendungen von Radio Podgorica. Zudem verbiete das internationale Recht das Rundfunksendungen aus internationalen Gewässern. Zu diesen rechtlichen Feinheiten kam eine politische Komponente hinzu: Belgrad warf dem Sender öffentlich mangelhafte Programmqualität vor und zweifelte die Glaubwürdigkeit der verbreiteten Informationen an.

So geriet die Droit de Parole in den Mittelpunkt eines internationalen Rechtsstreits.

Die ITU wandte sich daraufhin an die Nachbarländer auf dem Balkan wegen der Sendungen von Radio Brod und erhielt schließlich ein Schreiben vom Konsulat von St. Vincent und den Grenadinen in Monaco. Darin hieß es, ein Schiff unter der Flagge dieses Landes sende aus der Adria und man frage sich, ob dies illegal sei. Die ITU informierte den Konsul, dass Offshore-Rundfunk gemäß Artikel 422 des Genfer Abkommens von 1959 verboten sei und damit illegal. Sie gab aber auch zu, dass sie kaum etwas dagegen tun könne, wenn ein Mitgliedsstaat sich über das Abkommen hinwegsetze.

Nach dieser Auskunft der ITU entzog die Regierung von St. Vincent und die Grenadinen am 28. Juni 1993 der Droit de Parole ihre Registrierung. Radio Brod sah sich somit gezwungen, die Sendungen noch am selben Tag einzustellen, da das Schiff nun de facto ohne staatliche Zugehörigkeit war. Zwei Tage später fuhr das Radioschiff in den italienischen Hafen Bari.

Es folgte ein Monat intensiver Diskussionen und Verhandlungen mit den zuständigen Behörden in Europa sowie mit St. Vincent und den Grenadinen. Mit Hinweis auf das internationale See- und Völkerrechts, das Radiosender in internationalen Gewässern untersagt, wollten weder Frankreich noch Italien das Risiko eingehen, ihr Hoheitszeichen zu gewähren. Die Organisation Droit de Parole erklärte der Regierung von St. Vincent ausführlich den Charakter ihres Offshore-Projekts und betonte, dass Radio Brod sowohl von der Europäischen Gemeinschaft als auch von einer UN-Organisation unterstützt und finanziert werde. Gerade als São Tomé einspringen wollte, um das Schiff zu retten, ließen Unterstützungsschreiben von UN-Behörden und der Europäischen Kommission Saint Vincent umdenken. Der karibische Staat erneuerte die Navigationsgenehmigung – allerdings nur für drei Monate.

Die Flagge von Saint Vincent und den Grenadinen

Nach vier Wochen erzwungenen Wartens im Hafen durfte das Schiff schließlich wieder auslaufen. Am 29. Juli 1993 nahm das Schiff seinen 24-Stunden-Betrieb wieder auf. Das bekannte Jingle mit Möwenschreien und einem Nebelhorn, gefolgt von einem Song von The Clash („Lover’s Rock“) – und Radio Brod sendete wieder.

Bei der Wiederaufnahme benutze Radio Brod weiterhin die Frequenz 720 kHz, da die Verantwortlichen durch die bürokratischen Verzögerungen bei der ITU frustriert waren, wo man über eine Neuzuteilung einer Frequenz verhandelte. Medienberichten zufolge erwog der Sender zudem, einen 100-kW-Sender zu beschaffen, um eine bessere Abdeckung seines Zielgebiets im ehemaligen Jugoslawien zu erreichen.

Droit de Parole bat zudem die französischen Behörden, bei den Vereinten Nationen offiziell Unterstützung für Radio Brod einzuholen. Die neue französische Regierung, die bereits finanzielle Hilfen für das Projekt abgelehnt hatte, verweigerte dies mit Hinweis auf das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1982. Demnach hätten die Staaten des ehemaligen Jugoslawien das Recht, das Schiff zu betreten und die Sendungen von Radio Brod zu unterbinden.

Diese Argumentation war für die französischen Behörden zwar nützlich, allerdings auch etwas irreführend. Denn das UNCLOS-Abkommen war zu jenem Zeitpunkt weltweit noch nicht von der erforderlichen Anzahl an Staaten ratifiziert worden und damit noch kein Bestandteil des internationalen Rechts.

Wenn man „Droit de parole“ (Recht auf Rede oder Meinungsäußerung) heißt, gibt es kaum etwas Frustrierenderes, als schweigen zu müssen, um anderen Mächten zu gehorchen. Umso mehr empfand die gesamte Besatzung des Radioschiffes die Wiederaufnahme der Sendungen von Radio Brod als eine Befreiung.

Der Chefredakteur Dzevad Sabljaković hob triumphierend den Daumen: „Wir sind zurück – auf den Wellen und auf dem Wasser!“ Der Monat des Schweigens und der Ungewissheit war hart für die Moral, auch wenn er etwas Ruhe brachte und einige neue Gesichter an Bord kamen. Lachend zeigte er auf sein gestreiftes T-Shirt mit der Aufschrift „Boat-People Survival“.

„Ich habe nie geglaubt, dass Radio Brod wirklich aufhören würde. Wir haben die Programme weiter vorbereitet – und das neue Team ist noch enger zusammengewachsen.“ „Hier geht es darum, die Werte aufrechtzuerhalten, die dieses Schiff geschaffen hat. Das hier ist mein Zuhause, meine Nation.“

 

Der Empfangsbereich

Das Schiff war mit einem 50 Kilowatt starken Mittelwellensender und einem 10-Kilowatt-FM-Sender ausgestattet ist.

In Cafés und Bars in Dalmatien sowie an der montenegrinischen Küste wurde die Musik von Radio Brod für die Gäste gespielt.

Die Reichweite war sehr begrenzt, oft von Störungen begleitet. In die Empfangsverbesserung von Radio Brod wurde kaum investiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss von Radio Brod als Informationsquelle innerhalb der SFRJ sowie nach der Struktur seines Publikums und der Zuhörerschaft.

Der Sender konnte auf einem etwa 70 Kilometer breiten Streifen entlang der Küste, also in Teilen Kroatiens, Bosniens und Montenegros, empfangen werden. Dann brachen sich die Wellen an den zentralen Gebirgszügen, um jenseits der ex-jugoslawischen Grenzen wieder hörbar zu werden. Das bedeutet, dass Radio Brod in den wichtigsten Zentren der Macht, in Belgrad und Zagreb sowie in Serbien und in weiten Teilen Kroatiens nur mit ausgefeilter technischer Ausrüstung empfangen werden kann.

Die Sendung „Media Network“ von Radio Netherlands brachte am Donnerstag, dem 9. September 1993, einen Sonderbeitrag über die Medien im ehemaligen Jugoslawien. Unter anderem spielte Moderator Jonathan Marks eine in Belgrad aufgenommene Aufnahme von Radio Brod ab und kommentierte: „Wie Sie hören können, ist das Signal von Radio Brod auf der 720-kHz-Mittelwelle in Belgrad so schwach, dass es in Serbien kaum oder gar nicht zu hören ist, obwohl sein UKW-Signal in Teilen Montenegros angeblich recht laut und deutlich ist“. In der Sendung meinte ein Journalist des „Belgrader Kreises“, die internationale Gemeinschaft sollte – wenn sie wirklich ernsthaft versuchen wollte, die Situation im ehemaligen Jugoslawien zu ändern – einen anderen Ansatz in Betracht: „einfach Fernsehen von jenseits der Grenze“.

Beim damaligen Stand der Technik war die Reichweite allerdings mehr eine Frage der zur Verfügung stehenden Finanzen als der theoretisch einsetzbaren Sendeapparatur. Einige Redakteure äußerten sich konkret zum Problem der Empfangbarkeit der Sendungen:

Dževad Sabljaković: „Radio Brod konnte in einem großen Teil des ehemaligen Jugoslawiens empfangen werden – in einem Halbkreis von Istrien über Slawonien und die Vojvodina bis nach Mazedonien. Er wurde auch im kriegsgebeutelten Sarajevo, in Belgrad und in Zagreb gehört – am besten in Dalmatien und Montenegro. Der Empfang war jedoch ungleichmäßig und oft unvorhersehbar. Wir erhielten Nachrichten, dass man uns in Norwegen und Kanada hervorragend hören konnte, während der Empfang in Zenica oder Valjevo sehr schlecht war.“

Pero Jurišin: „Die Reichweite war geografisch begrenzt, wenn es um das ehemalige Jugoslawien geht. Der Empfang war schwach, manchmal konnte man uns in Sarajevo hören, gelegentlich in Novi Sad oder sogar Skopje. Da sich entlang der dalmatinischen Küste viele Flüchtlinge aufhielten, kann man sagen, dass sie unsere treuesten Hörer waren.“

Veselin Tomović äußerte sich wie folgt:

„Ich wünschte, wir wüssten, wie unsere Einschaltquoten sind“, sagte Jasmina Teodosijević. „Wir sagen der EC, dass wir Statistiken brauchen, aber es ist so schwierig, das herauszufinden. Aber wir wissen, dass uns irgendwie Leute hören.“ Aber die EC könnte kaum jemanden mit einem Klemmbrett in die dunkelsten Ecken des Balkans schicken, um Flüchtlinge zu befragen, ob sie das illegale Radio Brod hören.

Außerhalb der Zielregion war Radio Brod am besten nachts empfangbar, wenn andere Sender auf 720 kHz ihr Programm beendet hatten. Der in Deutschland nahe der niederländischen Grenze wohnende Autor dieser Zeilen hörte Radio Brod im Frühjahr und Sommer nachts zwischen 2 und 5 Uhr mit Hilfe einer Rahmenantenne. Es handelte sich dann um ein recht gutes Signal. Ähnliche Erfahrungen machte Chris Edwards in London.

 

Die Reaktionen

Die Journalisten an Bord produzierten verlässliche Nachrichten- und Informationsprogramme, die einen krassen Gegensatz zu den propagandistischen und eigennützigen Sendungen der kriegführenden Parteien bilden. Es gab Hinweise, dass sogar die serbische Miliz und die jugoslawische Geheimpolizei Radio Brod einschalteten, um zu erfahren, was wirklich vor sich ging.

Schon im Frühjahr 1993 nahm Radio Brod 3.000 Flüchtlingsnachrichten auf. Hundert Briefe kamen allein von jugendlichen Fans von Rock, Jazz und Rap.

Die schwimmende Radiostation wurde regelmäßig von den parteiischen Zeitungen auf allen Seiten scharf kritisiert. Die bosnischen Behörden verweigerten dem Korrespondenten des Senders in Sarajevo den Zugang zu den offiziellen Radiostudios, sodass er keinen Satellitentelefonanschluss mehr hatte. Radio-Brod-Redakteur Konstantin Jovanović empörte sich über den Direktor des bosnischen Rundfunks und Fernsehens, der für diesen Boykott verantwortlich sei: „Früher war er ein dicker Kommunist, und jetzt reißt er sich für andere Zwecke ein Bein aus.“

Der deutsche Journalist Ulrich Klaus berichtete am 15. Mai 1993 telefonisch gegenüber Wolf Harranth im Kurzwellenpanorama von RÖI, es seien bei Radio Brod zwei schwierig zu qualifizierende Anrufe mit Morddrohungen eingetroffen, die sich unmittelbar gegen die Journalisten und ihre Bemühungen richteten.

Eine kroatische Wochenzeitung beschuldigte die Radiomacher, Nationen zu unterstützen, die für ein einheitliches Jugoslawien und mithin Jugo-Nostalgiker seien. Auch das serbische Fernsehen schoss in Richtung Adria und bezeichnete die serbischen Journalisten von Radio Brod als „verkaufte Seelen“. Die schwimmende Radiostation sei ein Instrument der Ustascha und der muslimischen Fundamentalisten. Kroatien wiederum warf dem Radiosender vor, die Serben zu unterstützen.

„Das ist ein sehr gutes Zeichen“, sagte sich Srdjan Kusovac ironisch. Seine Kollegen an Bord winkten müde lächelnd ab. Sie seien professionelle Journalisten und wollten lediglich eine objektive Berichterstattung gewährleisten, nicht mehr und nicht weniger.

Jeden Tag bekam die Droit de Parole Besuch von zwei Militärhubschraubern. Sie flogen auf das Schiff zu, kreisten spielerisch um das Schiff, erzeugten dabei kunstvolle Strudel auf dem Wasser und kehrten dann zu ihrer Basis, dem US-Flugzeugträger “Theodore Roosevelt”, zurück. Der Flugzeugträger und andere Marineschiffe befanden sich angeblich in nächster Umgebung des Radioschiffes. Ab und zu glitt am diesigen Horizont ein graues Schiff wie von Geisterhand geführt vorüber, ohne Kontakt mit der Droit de Parole aufzunehmen. Die Mannschaft hatte sich an die Präsenz der Militärschiffe gewöhnt. Solange die Nato im Meer zwischen Italien und dem ehemaligen Jugoslawien umherkreuze, müssten sie wenigstens keinen Angriff aufgeheizter Nationalisten befürchten.

Besonders im Frühjahr und Sommer 1993 war der Andrang ausländischer Berichterstatter groß. Zeitungen und Journale aus aller Welt berichteten über Radio Brod und wollten sich hautnah an Bord einen Eindruck verschaffen. Französische (Arte, TF1‚ ‚Thalassa‘ auf France 3), britische (ITN), niederländische (NCRV, Super Channel), belgische, italienische (RAI) und deutsche (Das Erste) Fernsehsender machten Aufnahmen auf dem Schiff. Das deutschsprachige MDR Sputnik sendete ein ausführliches Feature über einen Besuch an Bord. Wolf Harranth im Kurzwellen-Panorama auf Radio Österreich International und Jonathan Marks in Media Network bei Radio Netherlands hielten ihre Hörer immer wieder auf dem Laufenden, und auch BBC Radio 4 und Europe 1 brachten aktuelle Berichte. Bernard Kouchner, der nicht nur ehemaliger Minister war, sondern auch bei Ärzte ohne Grenzen aktiv, befand sich Ende Juli 1993 an Bord des Droit de Parole-Schiffs und wurde über eine Live-Schaltung im französischen Langwellen-Radiosender RTL interviewt.

Die Organisation Droit de Parole hatte In Bari eine logistische Basis eingerichtet – in einem Apartment-Hotel, dessen oberstes Stockwerk komplett reserviert wurde. So hatte man eine Anlaufstation auch für die zahlreichen Journalisten aus der ganzen Welt, die über das Projekt berichteten. Der Empfang dort war freundlich, die Kontrolle akribisch. Das Gepäck wurde nach unliebsamen Überraschungen durchsucht, und die Pässe wurden bis zur Rückkehr vom Besuch des Sendeschiffes einbehalten.

 

Das Ende

Der Betrieb von Radio Brod gestaltete sich sehr kostspielig, und so erfuhren die europäischen Institutionen zu Ende 1993, dass die Beschäftigten drei Monate lang kein Gehalt mehr erhalten haben. Die in Paris ansässige Stiftung Droit de Parole gabt an, wegen Geldmangels die Gehälter der Redakteure nicht mehr regelmäßig zahlen zu können. Erst Anfang Januar 1994 wurden die Honorare für Oktober 1993 überwiesen.

Die Europäische Kommission beauftragte den BBC-Auslandskorrespondent Jim Fish, das Finanzmanagement des Senders sowohl an Land als auch an Bord des Funkschiffs zu untersuchen. Fish traf Anfang Januar 1994 nach halsbrecherischen Manövern mit einem Schlauchboot auf der Droit de Parole ein. Seine Inspektion im Auftrag der Europäischen Union schien eine direkte Folge einer niederländischen Beschwerde bei der Europäischen Kommission zu sein. Demnach nutzte die französische Stiftung Droit de Parole die insgesamt 5,3 Millionen ECU, die sie zur Unterstützung der unabhängigen Presse in Jugoslawien erhalten hatte, auf selten ineffektive Weise. Nicht nur die Effektivität der Sendungen vor der adriatischen, sondern auch die nach Ansicht von Beobachtern „stümperhaft organisierte“ Unterstützung der unabhängigen Presse in Serbien und Montenegro gaben Anlass zu der niederländischen Beschwerde.

„Unter den gegebenen Umständen wird hier hervorragende Arbeit geleistet“, fand Inspekteur Fish nach ein paar Tagen. Wie es jedoch um die Finanzen stehe, konnte auch er in Brüssel nicht klären. „Als ich danach fragte, legte man mir einen Stapel Aktenordner auf den Tisch und überließ es mir, selbst darin herumzusuchen.“ Auch Fish blieb völlig unklar, warum Droit de Parole kein Geld für die vergleichsweise bescheidenen Gehälter der Redakteure (rund dreitausend niederländische Gulden im Monat) übrighat. Die Seeleute an Bord, die bei einer französischen Reederei angestellt waren, berichteten ergänzend, dass es mit den Zahlungen an ihr Unternehmen ebenfalls nicht zum Besten stehe.

Bemerkenswert war, dass die Journalisten an Bord trotz ausbleibender Gehaltszahlungen auch im Januar 1994 einfach weiterarbeiteten. Auf Nachfrage stellten sie fest, noch gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, dem säumigen Droit de Parole mit Arbeitsniederlegung zu drohen. „Was sollen wir sonst tun?“, sagte Chefredakteur Veselin Tomović resigniert. „Die meisten von uns sind zu Hause entlassen worden, oder wenn wir doch Arbeit finden, dann nur zu lächerlichen Gehältern von ein paar D-Mark im Monat.“ Redakteur Konstantin Jovanović wurde wütend: „Wir sind allesamt Fachleute, und wir werden wie Bettler behandelt.“ Zu einem Streik komme es unter anderem deshalb nicht, so sagten jüngere Redakteuren, weil die älteren Kollegen, die noch unter dem Kommunismus aufgewachsen sind, viel zu sehr daran gewöhnt seien, den Mund zu halten und geduldig abzuwarten, was die Obrigkeit entscheidet.

Dragica Ponorac überlegte, eventuell von Land aus zu senden:

Um sich finanziell über Wasser zu halten, hatte die Organisation Droit de Parole schon im Sommer 1993 T-Shirts mit Motiven des Künstlers Enki Bilal verkauft (150 Francs plus 30 Francs Versandkosten – der Preis für eine Sendeminute). Hier konnte man sie bestellen: Droit de parole, BP 6, 75922 Paris Cedex 19.

Am 24. Januar 1994 gab es in Bari im Teatro Piccinni eine Benefizveranstaltung mit vielen bekannten italienischen Musikern. Sie kam leider zu spät, denn wegen der Liquiditätsschwierigkeiten beschloss die Europäische Kommission, die Förderung für Radio Brod nicht zu verlängern. Damit verlor das Projekt seinen wichtigsten Geldgeber und musste am 28. Februar 1994 um Mitternacht endgültig die Sendeanlagen abschalten. Es war das Ende eines einzigartigen Experiments.

Die Organisatoren behaupteten auf einer Pressekonferenz in Rom am folgenden Tag, sie hätten keine Vorwarnung erhalten, dass die Unterstützung eingestellt werden sollte. Die Journalisten und Mitarbeitenden zeigten sich wütend und enttäuscht. Man setzte noch Hoffnung auf einen möglichen landbasierten Sender an der italienischen Küste. „Italien ist unsere letzte Hoffung.“

Es gab dann Hinweise, dass Radio Brod schließlich am 7. März 1994 noch einmal für wenige Tage in den Äther zurückkehrte. Gleichzeitig sollten neue Finanzierungsquellen gesucht werden. Dagegen steht jedoch eine Faxantwort vom 7. März 1994 an den Niederländer Ruud Poeze (damals bei Quality Radio). Darin hielt die „Feronia International Shipping“ (FISH) in Paris fest, die Droit de Prarole befinde sich inzwischen wieder in Marseille und könne für 50.000 französische Francs pro Tag (zusätzlich Steuern) als Sendeschiff gechartert werden.

Nach der Einstellung des Programms von Radio Brod setzten einige der Journalisten ihre Karriere in den Redaktionen des südslawischen Dienstes von Radio Free Europe und in den BBC-Redaktionen fort, die sich auf die ehemaligen Republiken der SFRJ konzentrierten.

 

Das Fazit

Radio Brod vom Sendeschiff Droit de Parole mit seiner leider nur elfmonatigen Sendezeit ist auch drei Jahrzehnte später von beklemmender Aktualität. Die heutigen Zeiten von nicht mehr zu bremsenden Fake News in allen Medien schreien geradezu nach einem derart mutigen und unabhängigen Journalismus, der auf dem Hintergrund zahlreicher Kriege und gnadenloser Autokraten Rückgrat beweist.

Natürlich hat die schwimmende Radiostation keine Berge versetzt, und der Balkan-Krieg dauerte anschließend noch viele Jahre. Die bewundernswerten Journalisten und Techniker auf dem Radioschiff waren aber mit ihrer pluralistischen Berichterstattung, ihrem unerschütterlichen Engagement für unabhängige und wahrheitsgemäße Informationen erfolgreich und beispielgebend. Sie suchten den offenen Dialog zwischen den verschiedenen Ethnien und religiösen Gruppierungen und vermittelten humanitäre Hilfe. Sie halfen verzweifelten Menschen, die durch Radio Brod mit ihren Familien wiedervereint wurden oder zumindest erfuhren, dass ihre Angehörigen noch lebten und wohlauf waren. Und es ist Ihr Verdienst, einer kriegsgebeutelten Bevölkerung, die unter dem Zerfall ihrer Heimat und der allgegenwärtigen Propaganda litt, wenigstens für kurze Zeit etwas Trost und Verständnis gespendet zu haben.

Auf dieser sehr gut vernetzten ‚einsamen Insel‘ der Medienwelt ließ das Team von Radio Brod die Ehre einer freien Stimme hochleben – bewaffnet nur mit Mikrofonen und ihrem unerschütterlichen Willen. Die Geschichte dieser außergewöhnlichen Radiostation zeichnete eine Prise Verrücktheit und gesunder Utopie aus, die künftige Unternehmungen zum Schutz des unabhängigen Journalismus, der Information und der Meinungsfreiheit inspirieren sollte. Vielleicht muss man dazu den Anker lichten und in See stechen.

Die Belgrader Medientheoretikerin Ana Martinoli befragte im Jahr 2015 einige der Protagonisten dieses beeindruckenden Radioprojekts. Abschließend seien hier Auszüge dieser Stellungnahmen wiedergegeben. Darin kamen die Radio-Brod-Journalisten mehr als 20 Jahre danach zu einem durchaus positiven Resümee.

Dževad Sabljaković

Dževad Sabljaković: “(Die grundlegende Mission war,) objektive und unparteiische Informationen bereitzustellen – in gemeinsamer Arbeit von Journalistinnen und Journalisten aller Nationalitäten, die kein Misstrauen oder Hass gegenüber anderen Völkern hegten, sondern auch kritisch gegenüber den Eliten und Führungspersönlichkeiten ihrer eigenen Nation waren – und das mitten im Krieg.

Es war vor allem ein Medienprojekt mit guten Absichten – mit dem Ziel, die Würde des Journalismus und den Wert objektiver Berichterstattung zu bewahren.

Radio Brod war in der Geschichte das einzige Radioprojekt, das Journalisten und eine Redaktion direkt an Bord hatte und dessen Programm auf dem Schiff selbst entstand.”

Ines Sabalić: “Es war eine menschliche Mission. Ein Experiment, ob mitten im Krieg diejenigen, die über ihn berichten, ihn beschreiben und ihn der Öffentlichkeit vermitteln, gemeinsam ein Programm gestalten und zusammenleben können. Wir waren tatsächlich eingeschlossen – einige wenige von uns, mit unterschiedlichen Charakteren, Lebenserfahrungen, Generationen und Karrieren, in einem Raum, den wir nicht verlassen konnten. Wir waren völlig aufeinander angewiesen. Es blieb uns nichts Anderes übrig, als miteinander zu reden – oder zu streiten.”

Dragica Ponorac: “Der Medienraum war vergiftet, voller Hass und Intoleranz. Die Idee von Radio Brod war es, inmitten eines Ozeans von parteiischen, hetzerischen Medien eine Plattform zu schaffen, die einen anderen, unparteiischen Ansatz verfolgte – eine, die Toleranz und Frieden förderte und auf Deeskalation abzielte. Doch genau das störte alle Seiten, weshalb der Sender auf heftigen Widerstand stieß. Die größte Genugtuung hatten wir, wenn wir Briefe oder Nachrichten von Menschen erhielten, die ihre Heimat verlassen mussten und dank Radio Brod Familienmitglieder fanden, die in Lagern gefangen waren. Die grundlegende Mission war eine humanitäre: Inmitten von Desinformation und kriegstreibenden Medien eine Stimme der Toleranz zu schaffen und zu einem professionellen Journalismus beizutragen.

Die Wahl des Schiffs als Standort war bewusst – es sollte Aufmerksamkeit erregen, weil es ein Medium war, das sich weder eindeutig auf einer noch auf der anderen Seite befand.”

Pero Jurišin: “Vielleicht war die größte Leistung dieses Projekts, dass es überhaupt existierte. Dass sich darin Menschen engagierten, die in vielem unterschiedlich waren – aber nicht in ihren Überzeugungen. Dass sie zeigten, dass es trotz aller Widrigkeiten möglich ist, gemeinsam erfolgreich, ehrenhaft und anständig zu arbeiten. Dass Vernunft und Menschlichkeit siegen können und sollten. Dass wir ihnen Informationen gaben, die für sie in diesem Moment von „unerträglicher“ Wichtigkeit waren. Dass wir versuchten, die Wahrheit zu sagen. Dass wir einigen die Gewissheit gaben, dass ihre Angehörigen noch am Leben waren, dass sie dem Inferno und dem Tod entkommen konnten. Was könnte man sich von seiner Arbeit mehr wünschen?”

Lazar Stojanović: “Es war ein prometheischer Versuch, eine andere Stimme in eine vergiftete Medienlandschaft zu bringen. Und ich denke, das Wort „prometheisch“ (an Kraft und Größe alles überragend) trifft es genau.”

 

Die Quellen

Algemeen Nederlands Persbureau (ANP) 02-07-1993

Aonuma, Satoru: Alternative Media and the Unwiring of the Global Village: Reappraising International Radio Broadcasting in the 21st Century. Paper presented at the National Communication Association Annual Convention Held in Las Vegas, NV, November 2015

Bastic, Jasna. Help and hope from Radio Boat. The European 30-09-1993

Beham, Mira: Den Krieg in den Medien beenden. Süddeutsche Zeitung (September 1993)

Breuninger, Martin: Radio Brod – Friedenssender für Ex-Jugoslawien. RADIO-Hören 5-1993

Breuninger, Martin: Radio Brod – Das Radioschiff. MDR Sputnik 23-06-1993

Van den Boogaard, Raymond: Op zee, een somber maar heel Jugoslavië. NRC Handelsblad 15-01-1994

Colonna d‘Istria, Michel: „Radio-Bateau“, antenne haut. Le Monde 02-08-1993

Eagar, Charlotte: Desperately seeking Bosnia’s truth. The Observer 19-09-1993

Eagar, Charlotte: ‚Pirate‘ radio broadcasts to Balkans. The Telegraph 23-09-1993

Harranth, Wolf: Kurwellenpanorama. Frühjahr und Sommer 1993

Harranth, Wolf: Seesender für Meinungsfreiheit in Jugoslawien. Kurier 12-1993

Horne, A.D.: Dispute torpadoes ‚Boat Radio‘. Washington Post 26-09-1993

Kurt, Erbil und Pinkau, Rainer: Die Segel gestrichen. Journalist 8-1993

Leonard, Mike: Offshore Radio Museum. http://www.offshoreradiomuseum.co.uk/page582.html

Martinoli, Ana: Kreiranje Alternativnog Medijskog Prostora u Trenutku Raspada Jugoslavije – Programski i Produkcioni Aspekti Projekta Radio Brod. Beograd, 29-30. Oktobar 2015

Marks, Jonathan: Media Network. Radio Netherlands (14-04-1993, 09-09-1993, 10-02-1994, 24-02-1994, 03-03-1994)

Noethen, Sabine, In: Weltspiegel (Das Erste, ARD). 16-08-1993

Offshore Echo’s Magazin (Issues 94, 95, 96 and 98) (1993/94)

Parkes, Jim: The Encyclopedia of Offshore Broadcasting (Edition April 2024)

Pedersoli, Alessandra e Toson, Christian: Onde libere e rock ‘n’ roll. La rivoluzione delle emittenti ofshore. In: La rivista di engramma 174 (luglio/agosto 2020)

Radiojournal 6-1993

Radio von unten 6-1993

Raspiengeas, Jean-Claude: La Voix de la You. Télérama 23-06-1993

Vivarelli, Niccolo: Free Press on the High Seas. Newsweek 30-08-1993

Zordan, Nicola: Radio brod, controinformazione in mare aperto. https://www.meridiano13.it/radio-brod-controinformazione-in-mare-aperto/

Droit de Parole (Foto: Alexandra Boulat)