Teil 1: 1965 – 1974

Ein nostalgischer Rückblick auf die Seesender von Martin van der Ven

 Bei diesem Icon hören Sie jeweils einen geeigneten Mitschnitt (nicht immer vom Autor selbst aufgenommen).

Seit Jahrzehnten wird immer wieder die Frage diskutiert, was die Seesender so faszinierend macht. Verschiedene Erklärungen dieses Phänomens drängen sich auf: So etwa die oft atemberaubenden Abenteuer der Diskjockeys und Schiffsbesatzungen, die als Vorläufer späterer Reality-TV-Sendungen täglich „live“ im Radio zu verfolgen waren, aber auch die Aufmüpfigkeit der fälschlich „Piraten“ genannten Sender, die geschickt Gesetzeslücken nutzten und Pop- und Rockmusik spielten, die sonst im Radio kaum zu hören war.

Ein weiterer, in meinen Augen wesentlicher Aspekt war der teilweise sehr schwierige Empfang der Sender, die keineswegs wie heute üblich störungsfrei über UKW in jedem Autoradio, mit einem Satellitenempfänger oder als Internetstream zu hören waren. Vielmehr waren vor allem auch in Deutschland etwas besser ausgestattete Radioempfänger und günstigenfalls eine Spezialantenne erforderlich, um die meist auf Mittelwelle, vereinzelt auch über Kurzwelle ausgestrahlten Sendungen hereinzukommen. Dabei wirkten sich die jeweilige Tages- und Nachtzeit mit häufigem Fading oder auch Gewitterstörungen und die zahlreichen Interferenzen durch verschiedene Rundfunkstationen auf derselben Frequenz (meist aus dem damaligen Ostblock) oft negativ auf die Qualität des Empfangssignals aus. Außerdem standen den verschiedenen Seesendern unterschiedlich starke Sendeeinrichtungen an Bord zur Verfügung, so dass kleinere Sender wie Radio Atlantis oder Radio Delmare häufig nur stundenweise oder bei geeigneter Wetterlage zu hören waren. Meine These ist nun: Gerade diese Empfangsprobleme machten das Hören der Seesender besonders spannend und attraktiv, denn häufig waren ein nicht geringer Aufwand und anschließend eben auch ein kleiner Triumph damit verbunden, Sender wie Radio Caroline nun doch wieder in brauchbarer Qualität auf Mittelwelle zu hören. Ich will dies ausführlich mit eigenen Erinnerungen verdeutlichen.

1965-67

Den Anfang der Seesender, also die ersten skandinavischen Stationen, die Radio- und sogar Fernsehsendungen von der künstlichen REM-Insel vor der Küste von Noordwijk und auch die ersten Sendungen der englischen Seesender ab Ostern 1964 habe ich (im August 1955 geboren) noch vollständig verpasst. Meine Vorliebe für das Radiohören wurde zunächst in der Mitte der sechziger Jahre durch die deutschsprachigen Sendungen von Radio Luxemburg mit „Ansagern“ wie Frank (Elstner), (Dieter) Thomas (Heck), Helga (Guitton) und Jörg (Ebner) geprägt mit Sendungen wie „Die großen Acht“, „Die Funkkantine“, „Der fröhliche Wecker“ und „Die Hitparade“. Im Laufe des Jahres 1966 begriff ich dann, dass die mir besonders zusagenden englischen Schallplatten bei Radio Luxemburg oft nicht auf dem aktuellen Stand waren und einige Wochen hinterherhinkten. So gab es auf der Mittelwelle viele mir unbekannte, englischsprachige Sender, die deutlich aktuellere und auch „spritzigere“ Titel spielten. Rasch begann ich damals, eigene Hitlisten mit persönlichen Vorlieben zu erstellen, die möglichst auf dem allerneusten Stand waren. So muss ich zu diesem Zeitpunkt die Seesender wie Radio Caroline und Radio London entdeckt haben – ohne allerdings zu wissen, dass es sich um Sendungen von Schiffen auf der Nordsee handelte. Mein Englischunterricht auf dem altsprachlichen Gymnasium startete erst im Sommer 1967 (vorher hatten wir zunächst Latein gelernt…), so dass ich bis dahin nur wenig von den Sendungen verstand, allerdings damals schon die Namen der meisten „Beatgruppen“ und Plattentitel recht gut aussprechen und schreiben konnte.

Mein Elternhaus stand in Millingen, einem Ortsteil der am Niederrhein gelegenen Stadt Rees, nahe bei Emmerich und nur wenige Kilometer entfernt von der niederländischen Grenze (Arnheim ist nicht weit). Nachdem ich zunächst immer wieder die Rundfunkgeräte meiner Eltern im Wohn- und Esszimmer benutzt hatte (einen Receiver im Wohnzimmerschrank und ein ebenfalls etwas größeres, nicht tragbares Gerät), wünschte ich mir umso sehnlicher einen eigenes „Transistorradio“, das ich dann endlich zu Weihnachten 1965 bekam. Es handelte sich um ein recht kleines japanisches Gerät, dessen Hersteller ich heute leider nicht mehr erinnere (eventuell Sharp). Ehrlich gesagt war ich davon etwas enttäuscht (hätte dies meinen Eltern damals aber nie zu sagen gewagt), denn gerade der von mir wegen der „Musiksender“ bevorzugte Mittelwellenempfang ließ doch sehr zu wünschen übrig, wurde von mir aber zu allen Tages- und Nachtzeiten ausgiebig betrieben. Leider konnte man das Gerät auch nicht an das neue Tonbandgerät meines Vaters anschließen, so dass mein Bruder Thomas und ich die Hitparade von Radio Luxemburg (damals noch von Camillo Felgen moderiert) mit einem Mikrofon aufnahmen (was ich in den folgenden Jahren vereinzelt auch mit dem im Fernsehen samstags nachmittags laufenden Beat-Club so praktiziert habe).

Meine Unzufriedenheit mit dem Mittelwellenempfang führte zu dem dringenden Wunsch nach einem besseren Gerät, das ich mir dann im Laufe des Jahres 1966 oder zu Anfang 1967 von meinem Taschengeld geleistet habe. Leider erinnere ich auch hier nicht mehr den Hersteller. Es hatte jedenfalls eine bessere Kanaltrennung und wohl auch einen besseren Ferritstab. Besonders ist mir in Erinnerung, dass ich abends regelmäßig damit „Hallo Twen“ mit Manfred Sexauer auf der Europawelle Saar gehört habe, dessen Sendung um 18.05 Uhr ziemlich aktuell war mit allen neuen Platten aus England und den USA. Dort hörte ich beispielsweise zum ersten Mal „My friend Jack“ von den Smoke und war begeistert. Verschiedene Singles der Stones („Paint it black“, „We love you“), aber auch „Black is black“ von den Los Bravos oder die Troggs-Titel „Wild thing“ und „With a girl like you“ klingen mir heute noch in den Ohren, wenn ich an die Jahre 1965-67 zurückdenke. Überhaupt war die Musik die entscheidende Triebfeder, die mich immer wieder zum Radio führte. Die „Swinging Sixties“ blieben somit auch dem knapp 12jährigen Jungen nicht verborgen.

Am Karfreitag 1967 saß ich mit meinem Bruder Thomas im Auto meiner Eltern, die den Gottesdienst besuchten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich im Auto die Mittelwellenskala auf- und abgefahren bin und von den englischen Sendern begeistert war, die „meine Musik“ und dabei immer neue Singles spielten, die ich noch nicht kannte. Meiner Tante Gisela, einer Englischlehrerin am Gymnasium, habe ich in dieser Zeit einmal die englischen Seesender am Radio „vorgespielt“ und sie gefragt, wie viel sie denn davon verstehe. Zu meinem Erstaunen sagte sie, die Diskjockeys sprächen mit verschiedenen, teils amerikanischen Akzenten und überhaupt viel zu schnell, so dass man nur wenig verstünde…

Am 14. August 1967 hörte ich dann im „Morgenmagazin“ auf WDR 2 einen Bericht über das am heutigen Tag bevorstehende Ende der britischen Seesender. Nach meiner heutigen Erinnerung wurde mir erst zu diesem Zeitpunkt richtig bewusst, dass es sich dabei um Sendungen von Schiffen oder in der Nordsee verankerten ehemaligen Marinestützpunkten handelte. Schmerzlich begriff ich, dass mir künftig etwas Wichtiges fehlen würde und ich umso mehr auf das von mir immer mehr als „Dudel- und Schlagersender“ wahrgenommene Radio Luxemburg angewiesen sein würde. In den Wochen darauf fragte ich mich mehrfach verwundert, warum man „Radio Caroline“ trotzdem immer noch hören konnte – irgendwann (im Nachhinein wissen wir: im März 1968) war es dann zunächst ebenfalls verschwunden.

Schon vor dem Inkrafttreten des britischen Anti-Seesender-Gesetzes tauchte überraschend ein Radio-Caroline-Diskjockey regelmäßig im Deutschen Fernsehen auf. Im Beat-Club machte Dave Lee Travis teilweise etwas läppisch wirkende Witzchen, führte aber mehrere, an die Seesender angelehnte (Video-)Jingles ein, die die ohnehin einzigartige Sendung zusätzlich aufpeppten.  Einen noch größeren Eindruck hinterließen bei mir allerdings Uschi Nerkes Miniröcke… Auf jeden Fall habe in all den Jahren von 1965 bis 1972 kaum eine Sendung verpasst.

1968-69

1968 und 1969 bin ich dann weitgehend auf BFBS und Hilversum III ausgewichen. Der Vorteil lag vor allem im weitgehend störungsfreien UKW-Empfang. Und die englische und niederländische Sprache faszinierten mich so sehr, dass ich in der Folgezeit (und eigentlich bis heute) kaum mehr deutschsprachiges Radio hörte. Als Geschenk zu meiner Konfirmation im Frühjahr 1969 erhielt ich von meinen Eltern einen neuen Empfänger, den ich lange kritisch ausgesucht hatte und der mir bis zum Untergang der Sendeschiffs Mi Amigo im März 1980 treue Dienste beim Empfang der Seesender leisten sollte: Der „Touring International“ von ITT Schaub-Lorenz hatte ein gespreiztes 49-Meter-Kurzwellenband und auch einen sehr guten Mittelwellenempfang. Ich konnte ihn an mein neues Tonbandgerät (Saba TG 446 automatic) anschließen, das ich mir ein Jahr später zulegte und mit dem ich viele Mitschnitte von den Offshore-Stationen machen sollte. 

Im Sommer 1969 verbrachte ich dann mit meiner Familie einen Urlaub in Katwijk an der niederländischen Nordseeküste. Für einen damals knapp 14jährigen pubertierenden Jugendlichen war es überaus beeindruckend, dass „seine“ aktuellen Hits in jeder Boutique und in jedem Strandcafé zu hören waren und immer von demselben und damals einzigen (See-)Sender stammten: Radio Veronica vom Sendeschiff Norderney. „Venus“ von den Shocking Blue und „Ma belle amie“ von den Tee Set waren meine absoluten Veronica-Sommerhits 1969, und in Katwijk platzte beinahe das Kofferradio, so gut kam „Veronica op 192“ herein.

1970

Nachdem ich schon 1968 in den deutschen Zeitschriften und Zeitungen mehrfach vom letztlich gescheiterten deutschen  Radio Nordsee-Projekt gelesen hatte, das vom früheren Radio-London-Schiff Galaxy aus der Deutschen Bucht senden sollte, fand ich dann ähnliche Meldungen zu Ende des Jahres 1969. Nun jedoch realisierten sich die Träume der schweizer Herren Bollier und Meister, und zu Anfang Februar stand dann in der Rheinischen Post eine Kurzmeldung, dass  RNI Testsendungen vom Sendeschiff Mebo II aufgenommen habe. 

Noch am selben Tag hörte ich dann im 49-Meter-Band  erstmals Hannibal (Ulf Posé) marktschreierisch das kommende „internationale Programm in mehreren Sprachen“ anpreisen. [ ] Ich war fasziniert und enttäuscht zugleich, hatte ich doch – spätestens nachdem ich auch  Horst Reiner mit seinem österreichischen Akzent bei der enttäuschenden Eröffnungssendung hörte – das Gefühl: Die deutschsprachigen Diskjockeys können es nicht so gut wie die Engländer, sprechen nicht mal die Musiktitel und die Namen der Bands richtig aus…

Nichtsdestotrotz wurde ich in diesem Jahr zum erklärten RNI-Fan, und Radio Veronica habe ich danach fast völlig vernachlässigt. Ich verpasste im Jahr 1970 kaum je einen Sendetag, keinen der vielen Frequenzwechsel und schalte unentwegt zwischen Kurz- und Mittelwelle hin und her, um den Empfang zu vergleichen und zu verbessern. Ich ärgerte mich natürlich unsagbar über die englischen Störsendungen, versuchte deshalb ständig durch kleine Frequenzanpassungen ein brauchbares Signal „herauszufiltern“ und drehte das Kofferradio hin und her, um den Ferritstab in die optimale Position zu bringen. Radiohören wurde in diesem Jahr mich zur Passion. Ich erkannte jeden RNI-Diskjockey an seiner Stimme. Dass ich zu diesem Zeitpunkt noch über keine Fotos vom Schiff und den Leuten an Bord verfügte, beflügelte meine Fantasien umso mehr. Roger ‚Twiggy’ Day, Carl Mitchell, Andy Archer und Mark Wesley wurden für mich zu „All-Time-Favourites“, und ich höre bis heute fast wehmütig die vielen Tonaufnahmen aus diesem Jahr. Auch Hannibal wurde besser, als er schließlich an Bord kam.  Seine Sendungen morgens und abends habe ich sehr gern gehört, auch wenn vor allem der Empfang der Abendshow viel Mühe machte. [ ] Meine Eltern hatten dann fast immer das Fernsehgerät angestellt, das zu einem störenden Brummen führte. Schon gegen 20.30 Uhr setzte das berüchtigte Fading ein, und die verschiedenen osteuropäischen Stationen ließen das Signal spätestens eine Stunde später fast unbrauchbar werden. Die Kurzwelle im 49-Meterband (tagsüber nahezu störungsfrei) war dann schon lange nicht mehr zu hören.

Anfang April 1970 sind meine Eltern mit mir und den beiden jüngeren Brüdern für ein Wochenende nach Scheveningen gefahren. Wir übernachteten zweimal im mondän-altbackenen Kurhaus Hotel und hatten miserables Wetter. Es regnete und stürmte, und so blieb mir genug Zeit die sonore Stimme von Duncan Johnson auf RNI zu hören, das gerade auf die neue Frequenz 190 Meter gewechselt war. [ ] Die Mebo II lag seit zwei Wochen vor Clacton in Essex, so dass der Mittelwellenempfang zwar nichts zu wünschen übrig ließ, der UKW-Empfang aber leider in Holland nicht mehr möglich war. Dass das nebenan liegende und längst abgerissene Grand Hotel quasi der zweite Wohnsitz der Herren Meister und Bollier geworden war, las ich übrigens erst Jahre später.

Einige Wochen später empfing ich in Millingen wiederholt auch Capital Radio auf 270 Metern, das ich damals aber wenig interessant fand… Die Wassermusik von Händel irritierte den 14jährigen Hörer doch arg.

Im Frühjahr schrieb ich dem deutschen RNI-Diskjockey Axel einen Brief, und er hat dann tatsächlich in seiner Morgensendung am 24. Juli Grüße bestellt und außerdem auch persönlich zurück geschrieben und meine zahlreichen Fragen beantwortet. Axel hab ich übrigens oft morgens unter der Bettdecke gehört (ich schlief damals noch mit Thomas in einem Zimmer).

Die Störsendungen des britischen Post Office im Laufe des Frühjahrs führten im Juni während der heißen Phase des Wahlkampfs in Großbritannien zu der Umbenennung von Radio Nordsee International in Radio Caroline International. Ich war ziemlich enttäuscht und beunruhigt angesichts der “altmodischeren”, hausbackener klingenden Jingles und der sich häufenden Versuche einer politischen Einflussnahme während der Sendungen. Umso erfreuter nahm ich dann den Wahlsieg der Tories und die anschließende Rückbenennung in RNI zur Kenntnis.

In den Sommerferien zu Ende Juli habe ich mit einem Freund einige Tage am “Hagener Meer” (in der Nähe der von “Tante Grete” geführten Kneipe) in Haldern am Niederrhein gezeltet. Zu diesem Zeitpunkt war die Mebo II gerade an die holländische Küste zurückgekehrt, und der Empfang – jetzt endlich wieder ohne Störsignal – verbesserte sich um Längen. Wir haben von morgens bis abends RNI im Zelt gehört (meist ziemlich alkoholisiert). „Lola“ von den Kinks, „Question“ von den Moody Blues und „In the summertime“ von Mungo Jerry waren unsere RNI-Sommerhits.

Ab Anfang August war dann auch der zweite RNI-Kurzwellensender im 31-Meter-Band regelmäßig in Betrieb. Er erwies sich während unseres Familienurlaubs in Milano Marittima an der italienischen Adriaküste als hervorragende Möglichkeit, den geliebten Seesender von der Mebo II auch noch im südeuropäischen Ausland zu empfangen. Vor dem Abflug übernachteten wir im Landhotel Krummenweg in Ratingen, unweit vom Düsseldorfer Flughafen. Ich erinnere noch lebhaft, wie ich dort morgens in der Badewanne lag und Mark Wesley in hervorragender Mittelwellenqualität hörte. Alles war perfekt: Die flotte Musik, die modernen Jingles, seine professionellen Ansagen. Während der anschließenden Urlaubszeit in Italien machten meine Eltern regelmäßig einen Mittagsschlaf, und wir Kinder sollten dann ebenfalls auf unserem Hotelzimmer bleiben. So hörte ich dann am Samstag dem 29. August rechtzeitig, dass „Gefahr im Verzug“ war. Die aufgeregten Durchsagen von Carl Mitchell und Spangles Muldoon (Chris Cary) klingen mir noch im Ohr. Kees Manders scheiterte letztlich mit seinem Versuch der Schiffskaperung, und der gerade 15jährige RNI-Fan aus Deutschland hörte alles „live“ über Kurzwelle in Italien und schaltete zwischen dem 31- und 49-Meter-Band hin und her, während sich seine Familie nachmittags am Strand vergnügte.

Am 24. September war dann großer Katzenjammer angesagt, als RNI nach nur kurzer Vorankündigung plötzlich die Sendungen einstellte. Ich verfügte damals noch kaum über irgendwelches Insiderwissen. Die Begründung, man wolle Radio Veronica mit seinen langjährigen „Verdiensten“ dadurch schützen, leuchte mir überhaupt nicht ein und machte mich ärgerlich. Die Closedown-Sendung mit Alan West und Andy Archer musste meine Mutter für mich mit meinem Tonbandgerät aufnehmen, da ich an diesem Morgen in der Schule war. Erfreulicherweise klappte die Aufnahme trotz Mutters begrenzten technischen Kenntnisse, aber meine Trauer beim Anhören der Sendung war dann doch sehr groß.

Hugo van Gelderen, Cees van Zijtveld, Joost de Draaijer, Herman Stok und Ad Visser („Super-Clean-Dream-Machine“) hießen meine bevorzugten Diskjockeys von Hilversum III, auf das ich dann zunächst notgedrungen erneut zurückgriff. Später kamen Robbie Dale und Tom Mulder (Klaas Vaak) hinzu. Gelegentlich schaltete ich nachmittags Lex Harding und Tom Collins auf Radio Veronica ein, das aber auch in den kommenden Jahren nie mehr mein großer „Hit“ wurde. Nur „Het nationale zaterdagmiddag gebeurtenis“ mit Veronicas Top 40 fand ich wegen der Jingles attraktiv.

1971

In Zeiten des „Nicht-Empfangs“ habe ich in fast 3 Jahrzehnten umso häufiger und manchmal sogar mehrmals täglich die Mittelwellenskala nach neuen Sendern abgesucht, nur um nichts zu verpassen… So habe ich es auch nach dem vorläufigen Ende von Radio Nordsee International gehalten. Entsprechend bin ich vermutlich auch einer der ersten gewesen, die im Februar 1971 überraschender Weise wieder ein Signal auf 1367 kHz empfingen. Zunächst traute ich meinen Ohren nicht, hörte dann aber bald eine Ansage von Karl Prior, dass man „in de toekomst nog meer van Radio Noordzee“ hören werde. Die Testsendungen und der offizielle Start am 21. Februar (damals war ich grippekrank und verfolgte die Sendungen stundenlang im Bett) hörten sich viel versprechend an, zumal sich Alan West, Stevi Merike, Tony Allan, Crispian St. John und Martin Kayne unter den Diskjockeys befanden – fast alle „Seesender-erfahren“ und Meister ihres Fachs. Nur die vielen holländischen Schlager, die jetzt sogar in den RNI-Charts Einzug hielten und deren Titel von den Engländern nur mühsam ausgesprochen werden konnten, gefielen mir gar nicht. Auch der langweilige Start der niederländischen Programme mit Joost de Draaijer und Jan van Veen am 6. März war für mich eher ein schmerzliches Zeichen, dass mein geliebtes  RNI, wie ich es 1970 ständig hörte, wohl kaum wiederkommen würde. Enttäuschend war vor allem, dass es nun – analog zu Radio Veronica – an Land vorproduzierte Sendungen gab, denen das Flair der Livesendungen von Bord völlig fehlte.

Den Brandanschlag am 15. Mai habe ich nicht live im Radio verfolgt. Am nächsten Morgen erzählte mir mein Vater, in den deutschen Rundfunknachrichten sei berichtet worden, das Radio-Nordsee-Schiff habe am gestrigen Abend gebrannt. Entsprechend alarmiert stellte ich in der Tat fest, dass RNI an diesem Sonntagvormittag nicht sendete. Abends war ich dann schon beruhigter und hörte Alan West, wie er von den dramatischen Ereignissen berichtete. [ ]

In diesem Sommer genoss ich die englischen „Summertime-RNI“-Sendungen am späten Nachmittag und am Abend mit Alan West und vor allem mit Stevi Merike. Seine abendlichen Shows stehen an der Spitze dessen, was ich selbst mit eigenen Ohren von den Seesendern mitbekommen habe. Seine lustige Präsentation, die vielen (oft hausgemachten) Jingles, Promos, verschiedene Erkennungsmelodien und meist auch die Musik waren großartig. [ ]

Die Möglichkeit, RNI eventuell auch über UKW zu empfangen, beflügelte immer wieder meine Fantasie. Zahllose Male versuchte ich mit meinem Kofferradio oder auch im Auto ein Signal zu hereinzubekommen, hörte etwas von theoretisch möglichem Überreichweitenempfang. Doch vergebens, es gelang mir nie. An einem schönen Frühsommertag haben meine Eltern mit uns dann einen Tagesausflug ins bekannte Katwijk gemacht.  Ich habe einen mit Batterien bestückten Kassettenrekorder mitgenommen und empfing dann tatsächlich an der Strandpromenade RNI auf FM! Es war vor allem auch bei fahrendem Auto kein ganz stabiles, aber doch ein brauchbares Signal, und so habe ich schließlich im Wagen eine Kassette mit Ferry Maats Show am frühen Nachmittag aufgenommen, für mich ein wertvolles, kaum vergleichbares Dokument. Wenige Wochen später wollte ich mir die Aufnahme zum wiederholten Male anhören, doch da hatte sie mein Bruder Thomas schon gelöscht und mit Mal Sandocks „Diskothek im WDR“ überspielt.

In dieser Zeit begannen auch die sonntäglichen NorthSea-Goes-DX-Sendungen mit dem belgischen Sprachtalent A.J. Beirens.  Zu diesem Zweck wurde die Kurzwelle von der Mittel- und Ultrakurzwelle jeweils getrennt (anfangs nur für eine Stunde, zeitweilig als „RNI’s World Service“ aber auch länger). Ich habe diese Sendungen bis August 1974 mit größtem Interesse verfolgt, meist in der Badewanne liegend und aufmerksam lauschend, vor allem bei der „Geschichte der Seesender“, die schließlich auch in deutscher Sprache von Peter und Werner Hartwig aus Emden präsentiert wurde. So gab es also auch wieder ein bisschen Deutsch in den RNI-Sendungen… Bemerkenswert waren die vielen Briefe aus der DDR, die auf eine rege Hörerschaft auch im anderen Teil Deutschlands hindeuteten.

Im Sommer bin ich für drei Wochen zu einem Sprachkurs nach Eastbourne in Sussex gefahren. Dort wohnte ich bei einer englischen Familie. Meine Gastmutter schwärmte zwar von den alten Offshore-Zeiten und erinnerte sich auch lebhaft an Radio Caroline und Radio London. RNI kannte sie zu meiner Enttäuschung aber gar nicht, und sie hörte entsprechend nur BBC Radio 1. Der RNI-Empfang an der englischen Südküste ließ allerdings auch sehr zu wünschen übrig. Ich empfing dort ein recht schwaches Signal, das eher schlechter war als bei uns zu Hause in Millingen.

Am Nachmittag des 22. November berichtete plötzlich Robbie Dale auf Hilversum III, dass seine Kollegen auf der Mebo II heute in Schwierigkeiten geraten waren. Die Ankerkette war gerissen, und man war weit abgedriftet. Jetzt gegen Abend war aber alles schon wieder in Ordnung, und ich hörte einen inzwischen wieder entspannten Nico Steenbergen von den aufregenden Ereignissen berichten. [ ]

1972

Zunächst folgte dann eine hinsichtlich der Seesender weniger aufregende Zeit. RNI wurde nach meinem Geschmack ein etwas langweilig, sieht man mal von den Live-Sendungen mit Hans ten Hooge (Hogendoorn) und Leo van der Goot ab, die sich wohltuend von den meisten im  Landstudio vorproduzierten Shows abhoben. Ich begann damals mehr und mehr LP-Musik von so genannten Underground-Gruppen zu hören, lieh Platten von Freunden aus und überspielte sie auf Tonbänder. Im Sommer fuhr ich mit drei Freunden zum Campingurlaub ans französische Mittelmeer, wo mir der Mittelwellenempfang der Offshorestationen im Auto nicht gelang. Abends hörten wir dort „208“ – das englische Radio Luxembourg – mit Diskjockeys wie Tony Prince, Paul Burnett oder Bob Stewart. Zu dem Zeitpunkt war mir noch gar nicht bekannt, dass sie ebenfalls auf den Schiffen vor der englischen Küste gearbeitet hatten. 

Am 30. September rückten dann die Seesender wieder mehr in den Mittelpunkt. Radio Veronica kündigte wochenlang den Wechsel auf eine neue Frequenz an. „538“ statt „192“ hieß die Losung. Zu Hause bei meinen Eltern hatte ich das Tonbandgerät startklar gemacht und wollte das Ereignis ausführlich dokumentieren. Der Empfang auf der neuen Frequenz war wesentlich besser, und ich fragte mich, warum man das nicht schon eher realisiert hatte. Dann jedoch kam plötzlich die Überraschung. „RNI 2“ meldetet sich mittags direkt nach der Frequenzumstellung auf 1562 kHz. Man hörte Tony Allan mit seinen Ansagen und fragte sich: Ist das nun die Riesenverarschung zur Verunsicherung vieler Veronicahörer, oder will man tatsächlich ein zweites RNI-Programm starten? Ich habe meine Tonbandaufnahmen jedenfalls von „RNI 2“ und nicht von „Veronica 538“ gemacht. Leider hörte man die niederländischen RNI-Sendungen unterschwellig mit, da keine saubere Trennung der beiden Signale gelang. [ ] Und am nächsten Morgen war der „Spuk“ sang- und klanglos wieder vorbei. Bei alledem ist völlig an mir vorbeigegangen, dass an dem besagten Samstag noch eine weitere Sensation stattfand: Erste Testsendungen von Radio Caroline von der MV Mi Amigo liefen scheinbar gut hörbar auf 259 Metern, verstummten aber wieder zunächst bis Dezember. Dass Gerard van Dams Geschichte mit dem geplanten Museum auf der Mi Amigo nur ein  Trick gegenüber den Behörden war und das Schiff inzwischen schon vor der Küste lag, war mir völlig verborgen geblieben.

Schon seit 1971 gehörte ich der Freien Radio Assoziation Germany (Ernst Wronna) und inzwischen auch der Free Radio Campaign Germany (Frank Leonhardt) an. In mehrwöchigen Abständen erhielten die Mitglieder Rundbriefe bzw. die „Free Radio News“, die später zur „Radio News“ umbenannt wurden und durch die exzellenten Fotos von Theo Dencker aus Hamburg von Fans in ganz Europa geschätzt wurden. So erfuhr ich zumindest in gewissem Abstand von den jeweiligen Hintergründen, wusste entsprechend dann auch im Laufe des Herbstes 1972 von der bevorstehenden Rückkehr Radio Carolines. Die Hefte pflegte ich als wertvolle Sammlerstücke und sah sie tausendmal durch. Ich klebte Sticker in mein Zimmer, hängte Poster auf und erfuhr immer mehr von der Geschichte des Offshore-Radios. Erste Bücher zum Thema las ich gleich mehrfach. Auch verschiedene Schallplatten sollten bald folgen.

Kurz vor Weihnachten empfing ich dann in Millingen recht problemlos die provisorisch „Radio 199“ genannten Sendungen von der MV Mi Amigo und freute mich über die bekannten Stimmen von Crispian St. John und Andy Archer, die mir durch ihre Zeit auf der Mebo II sehr vertraut waren. Die Umbenennung in „Radio Caroline“ folgte noch vor Weihnachten. Die vielen niederländischen Diskjockeys an Bord ließen mich befürchten, wohl niemals mehr das „echte“ Radio Caroline der sechziger Jahre zu hören, und die zahllosen Reklamespots kleiner Werbekunden führten in den kommenden Monaten zum Beigeschmack einer oft amateurhaft anmutenden Lokalstation. Den Jahreswechsel habe ich mit bei Freunden in Bochum gefeiert. Am 28. Dezember empfing ich dort noch ein schwaches Signal von der Mi Amigo. Erst nach meiner Rückkehr zu Anfang Januar hörte ich Caroline dann wieder – und hatte somit nichts mitbekommen von der zwischenzeitlichen Meuterei an Bord und dem erzwungenen „Abstecher“ des Schiffes zurück in den Hafen von IJmuiden.

1973

Im Frühjahr 1973 überschlugen sich auf einmal die Ereignisse: Ein Sturm fegte die Norderney, das Sendeschiff von Radio Veronica, an den Strand von Scheveningen. In der „Rheinischen Post“, unserer heimischen Zeitung, erschien ein großer Bericht mit eindrucksvollen Bildern.  Auch Radio Caroline hatte schon etwas länger geschwiegen, so dass nach dem Sturm zunächst nur RNI weiter aktiv war. Was sollte nun aus der großen Veronica-Demonstration am 18. April in Den Haag werden? Ich hörte dann rechtzeitig ein Signal von der MV Mi Amigo und war irritiert, als sich aber Radio Veronica auf 259 Metern meldete. Die auf mich eher bieder-konservativ wirkenden Veronicaleute hatten sich also beim Oberhippie Ronan O’Rahilly eingekauft, rührten kräftig die Werbetrommel für die Demonstration und bezahlten für Carolines künftige neue Sendeanlage. Pünktlich zum 18. April zog man die Norderney wieder auf See und begann auch wieder auf „538“. Alles schien wieder perfekt, und ich hegte Hoffnungen, dass das Anti-Piratengesetz nun vielleicht doch nicht vom niederländischen Parlament verabschiedet würde. 

Durch die unverhofften Einkünfte konnte Radio Caroline im Frühjahr dann sogar auf zwei Frequenzen parallel senden. „389“ verbreitete das hörenswerte englische Programm mit Paul Alexander [ ], Robin Adcroft (Banks) und Steve England, „259“ sendete das holländische „Radio Caroline 2“.  Auch in diesem Frühsommer war ich (ganz links auf dem Foto) wieder mit zwei Freunden in Frankreich. Als wir noch im Juni mit einem VW-Käfer über die holländischen und belgischen Autobahnen fuhren, hörten wir bei bester Laune und Superwetter Radio Caroline auf 773 kHz („389“), das uns von der Musikauswahl am besten gefiel. Der Empfang im Auto war spitze. Leider sollte die Parallelabstrahlung beider Carolineprogramme nur eine kurze Episode darstellen. An der südfranzösischen Atlantikküste in der Nähe von Biarritz empfing ich dann mit dem Kurzwellenteil des Autoradios RNI und hörte den Beginn der „Hou’m in de lucht“-Kampagne, die zwar wesentlich schwachbrüstiger als „Veronca blijft – als U dat wilt“ schien. Aber die Jingles und Promos machten doch einen viel versprechenden Eindruck. Es kam somit doch ein bisschen Kampfesstimmung bei mir auf, auch wenn RNI inzwischen nicht mehr meine erste Wahl war. 

Nach der Rückkehr aus Frankreich war ich dann umso perplexer, als nun völlig unerwartet „Radio Atlantis“ mit mehreren, für meine Ohren etwas befremdlich klingenden flämischen Diskjockeys von der Mi Amigo sendete. Die Frequenz des von flämischen Schlagern und schrecklicher Werbung geprägten Senders wurde zunächst fälschlich mit „385“ angegeben. Der Empfang der offensichtlich vorproduzierten Programme war in unserer Region zwar prächtig. Aber wesentlich besser gefiel mir dann doch am Abend auf derselben Frequenz „Radio Seagull“, ein alternativer, vorrangig „Alben“ auch unbekannter Gruppen spielender Sender, der von Andy Archer und Norman Barrington-Smythe dominiert schien. Die langhaarig-unangepassten, mehr am Rande der Gesellschaft stehenden Hippies hatten nun endlich ihr eigenes Sprach- oder besser noch: Musikrohr. Die englischen RNI-Sendungen, zu denen nun auch der (ansonsten von mir geschätzte) ‚Daffy’ Don Allen mit seinem nach meinem Geschmack fürchterlichen Countryprogramm gehörte, fand ich im Vergleich dazu kaum mehr hörenswert – und das im doppelten Wortsinn: Der abendliche und nächtliche Empfang auf 1367 kHz (220 Meter) war im Westen der Bundesrepublik überaus mies, und der Kurzwellenempfang gelang bei Dunkelheit so gut wie gar nicht.

Nach wenigen Monaten knickte dann zum wiederholten Male der Mast auf der MV Mi Amigo um, woraufhin der belgische Waffelbäcker Sylvain Tack zum Jahresende als notwendige Finanzspritze mit seinem neuen „Radio Mi Amigo“ die Nachfolge seines Landmannes und Boutiquenbesitzers Adriaan van Landschoot antreten sollte. Am 1. Weihnachtstag hörte ich dann vom neuen Mast (der bis zum Untergang der Mi Amigo – und selbst noch danach – standhielt!) eine wunderschöne Testsendung auf „259“ mit Andy Archer und Norman Barrington. Die Mannschaft an Bord schien offensichtlich gut gelaunt und voller Zukunftspläne. Man nahm Kontakt auf mit der Mebo II und veräppelte immer wieder den RNI-DJ Mike Ross mit vielen gut gemachten „Toad“-Promos.

1974

Am Neujahrstag 1974 empfing ich Radio Mi Amigos Eröffnungssendung mit Will van der Steen zwar mit sehr kräftigem Signal, das aber von bemerkenswert kurzer Dauer war, denn die Ausstrahlung wurde schon während der ersten Stunde wegen Generatorproblemen abgebrochen. Dem Fehlstart folgten dann aber unerwarteter Weise fast 5 weitere Jahre, und gerade Radio Mi Amigo sollte mich somit noch lange und intensiv begleiten. 

Zu dieser Zeit stand ich kurz vor dem Abitur, und ich hatte das Privileg, dass ich den alten VW-Käfer von meiner schon erwähnten Tante Gisela besonders günstig übernehmen konnte. So fuhr ich in der ersten Jahreshälfte häufig mit eigenem Auto zur Schule und hatte natürlich ein Radio mit gutem Mittelwellenempfangsteil eingebaut. Damit erreichte ich gerade bei schwachen Sendern oft bessere Ergebnisse als mit meinem Kofferradio. Meist suchte ich während der Fahrt die ganze Skala ab – man konnte ja nie wissen. Und so empfing ich dann im Januar auch die ersten Signale des wieder auferstandenen Radio Atlantis, das jetzt mit der MV Jeanine ein eigenes Schiff benutzte und somit nicht mehr auf die Mi Amigo angewiesen war. Crispian St. John hatte schon wieder den Arbeitgeber gewechselt… Radio Atlantis wurde bekanntermaßen zu einem Riesenspaß für alle Beteiligten. Dabei stachen die englischen Sendungen besonders hervor, die live vom Schiff abends und in der Nacht gesendet wurden. Ich habe den Werdegang des Senders bis Ende August ständig verfolgt – gerade auch wegen der Empfangsprobleme und der immer wieder wechselnden Frequenzen. Die Shows sprühten vor Witz, Lockerheit und Spontaneität. Andy Anderson, Dave Owen, David Rogers und vor allem Steve England mit seinen unzähligen Jingles und Promos ließen den Spaß am Radiomachen ganz deutlich erkennen und waren ein absolutes Offshore-Highlight. [ ] Die Sendungen profitierten offensichtlich auch davon, dass nicht der große kommerzielle Erfolgsdruck dahinter stand, wie er bei Veronica und RNI spürbar war. Besonders habe ich die Atlantis-Sendungen kurz vor Toresschluss in der zweiten Augusthälfte genossen, als die flämischen Sendungen wegen des unmittelbar bevorstehenden Inkrafttretens des holländischen Anti-Piratensender-Gesetzes bereits eingestellt waren und die Jungs an Bord rund um die Uhr live senden konnten.

Noch mehr Freude hatte ich aber an den englischen Sendungen von der Mi Amigo. Radio Seagull wurde im Februar nun doch wieder in  Radio Caroline umbenannt, das nun in den kommenden Jahren als „Europe’s First And Only Album Station“ unter Musikfreaks Furore machte und den eigenwilligen Seagull-Stil der Sendungen weitgehend beibehielt. Durch die finanzielle Unterstützung Radio Mi Amigos entstanden offensichtlich die nötigen Freiräume, die von den englischsprachigen Deejays an Bord durchweg positiv genutzt wurden und in hörenswerte Sendungen mündeten. Aber auch die englischsprachigen Sendungen von Radio Mi Amigo am Vorabend bereiteten mir viel Freude. Norman Barrington, Brian Anderson und bei Caroline Andy Archer, Johnny Jason, Graham Gill (warum war er nur von der komfortablen Mebo II zur Mi Amigo gewechselt?), Robb Eden und Mike Haggler waren meine Stars in diesem Frühjahr und Sommer. Besonders Andy fühlte sich offensichtlich sehr wohl an Bord. Er machte immer wieder Bemerkungen zur Atmosphäre auf der Mi Amigo, sprach ohne Pathos von der „Caroline-Family“, war dabei witzig und locker und spielte vor allem „andere“ Musik, die man nirgendwo sonst hörte. Nie werde ich vergessen, als er am 26. August zu Beginn seiner Sendung provozierend sagte: „Mijnheer van Doorn, ik heb een bootschap voor U: Caroline blijft in de lucht!“ [ ]  Damit war der niederländische Minister gemeint, der für das unmittelbar bevorstehende Verschwinden der Seesender verantwortlich zeichnete. Für alle Fans war dies die verlässliche Kampfansage: Caroline wird weitermachen, im Gegensatz zu allen anderen und genau wie 1967!

Nach meinem Abitur zu Anfang Juni bin ich mit einem guten Freund einen Monat lang kreuz und quer durch Schweden und Norwegen gefahren und habe dort die Seesender und das Radiohören nahezu vergessen. Auf den Campingplätzen haben wir die Fußball-WM in der Bundesrepublik verfolgt und gemeinsam mit vielen holländischen Fans die westdeutsche Mannschaft schließlich gewinnen sehen. Erst bei der Rückfahrt am 13. Juli entlang der dänischen Nordseeküste nahm ich dann zumindest war, dass RNI und Radio Veronica weiterhin „on the air“ waren. So hörten wir im Auto laut die Nordsee Top 50 mit Ferry Maat. 

Bislang waren die Seesender für mich ein ziemlich autistisches Hobby. Ich hatte zwar schriftliche Kontakte mit verschiedenen Organisationen, machte Bestellungen und las die einschlägigen Radiohefte. So wusste ich auch von zahlreichen deutschen Fans, kannte aber niemanden von ihnen persönlich. Die meisten meiner Bekannten und auch meine damalige Freundin hatten nur begrenztes Verständnis für mein Interesse an den „Piraten“. Da hätte sich das Ende der niederländischen Sender angeboten, an dieser „Kontaktstörung“ etwas zu ändern, etwa nach Scheveningen zu fahren, um sich mit vielen anderen Fans zu treffen. Doch daraus wurde nichts. In den Wochen vor dem ab November geplanten Zivildienst arbeitete ich in einem Büro des Siemens-Turbinenwerks in Wesel. Diese Tätigkeit unterbrach ich für eine Woche zu Ende August, um meine damals in Grindelwald im Berner Oberland (Schweiz) urlaubenden Eltern zu besuchen. In diese Zeit fiel dann auch der besagte 31. August. Ich bekam also vom letzten Tag zunächst überhaupt nichts mit, wanderte stattdessen mit meiner Familie zwischen muhenden Kühen auf Höhenpfaden und verpasste alle Abschiedssendungen. Erst in der Nacht habe ich dann in unserer Dachkammer im Hotel erfolgreich Radio Caroline auf 1187 kHz („259“) empfangen und Tony Allan seine (im Vergleich zu Johnnie Walker wenig enthusiastische) Ansage um Mitternacht gehört. Ein wohltuendes Gefühl!

In den Spätsommerwochen bin ich wegen der Arbeit meist schon morgens um 5 Uhr aufgestanden und habe dann beim Frühstück die letzte Stunde der Nachtsendungen von Radio Caroline gehört. Unzählige Male hörte ich dann zum Sendeschluss um kurz vor 6 Uhr „New Riders of The Purple Sage“ mit „On My Way Back Home“, ein schnulziges, aber ins Ohr gehendes Lied, das für mich zur wahren Carolinehymne wurde. Es folgte danach die sprachbegabte Haike Dubois auf Radio Mi Amigo, die meist auch eine Ansage auf Deutsch machte… [ ]

Zu Ende Oktober war dann Abschied angesagt: Ich zog nach Münster (Westfalen), begann den Zivildienst im Operationsbereich des Hüfferstifts, der Orthopädischen Universitätsklinik. Abschied nehmen nicht nur von den Eltern und Geschwistern, sondern auch von meinen langjährigen, lieb gewonnen Hörgewohnheiten. Die Empfangsqualität war in Münster doch wesentlich bescheidener. Dennoch verging kein Tag ohne Radio Mi Amigo und Radio Caroline, zumindest im Auto.

Zu Weihnachten erlaubte ich mir das tolle Buch „Offshore Radio“ von Gerry Bishop, aus dem ich viel über die Seesender-Geschichte lernte. Die gestochen scharfen Fotos stimmten mich etwas wehmütig. Man hatte fälschlicher Weise das Gefühl, dass nun wohl nicht mehr viel folgen sollte…

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