Die schwimmende Radiostation der britischen Besetzung in Madagaskar
Nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Waffenstillstands im Wald von Compiègne am 22. Juni 1940 infolge der deutschen Westoffensive wurde Frankreich aufgeteilt. Der Norden mit der Hauptstadt Paris befand sich unter deutscher Besatzung. Im unbesetzten Süden wurde der Kurort Vichy im Departement Allier ab Juli 1940 zum Sitz einer neuen französischen Regierung. Diese kontrollierte etwa 40 Prozent des französischen Staatsgebiets, einschließlich der Kolonien, sowie eine Armee von 100.000 Mann. Henri Philippe Pétain, im Ersten Weltkrieg als “Held von Verdun” gefeiert, übernahm als Staatsoberhaupt des “État Français” die nahezu uneingeschränkte Macht.
Zu Beginn des Jahres 1942 hatten die Briten Bedenken, dass die Insel Madagaskar, eine französische Kolonie mit loyalen Behörden zur Vichy-Regierung, als Rückzugsort für japanische U-Boote dienen könnte. Die “Operation Ironclad” wurde ins Leben gerufen, um die von Vichy-Frankreich kontrollierte Insel Madagaskar während des Zweiten Weltkriegs zu besetzen. Sie begann am 5. Mai 1942 und endete mit der Kapitulation der letzten kämpfenden französischen Einheiten am 8. November 1942.
Das erste Ziel war die Neutralisierung der französischen Marinebasis Diego-Suarez (heute Antsiranana) an der Nordspitze von Madagaskar.
Die HMS Winchester Castle beteiligte sich an der Besetzung Madagaskars. Dieses Passagierschiff aus dem Jahr 1930, das für die britische Reederei Union-Castle Line im Passagier- und Postverkehr zwischen Großbritannien und Südafrika eingesetzt wurde, spielte eine vielseitige Rolle. Das 20.019 Bruttoregistertonnen (BRT) große Motorschiff wurde bei Harland & Wolff in Belfast gebaut und lief am 19. November 1926 vom Stapel. Mit einer Länge von 192,33 Metern, einer Breite von 22,86 Metern, einem Schornstein, zwei Masten und zwei Propellern kostete der Bau 1.080.493 Pfund Sterling. Ausgestattet mit Echolot und drahtloser Richtungsfindung wurde die Winchester Castle im Zweiten Weltkrieg als Übungsschiff, Hilfskreuzer und Landungstruppentransporter genutzt.
Während der Landung der Alliierten auf Madagaskar (Operation Ironclad) im Mai 1942 war die Winchester Castle das Hauptquartierschiff für die alliierten Landungen auf der vom Vichy-Regime kontrollierten Insel. Begleitet wurde sie von den Schiffen Keren, Karanja, Llandaff Castle und Sobieski, die vom Schlachtschiff HMS Ramilles eskortiert wurden. Nach den erfolgreichen Landungen ankerte die Winchester Castle in der Bucht von Diego-Suarez.
Am 7. Mai 1942 fiel der Hafen von Diego-Suarez in die Hände der Briten. In der Hauptstadt Tananarive startete daraufhin der Vichy-Rundfunk Propagandasendungen, um die Briten zu diskreditieren und ihren Fortschritt bei der Besetzung des südlichen Teils der Insel zu behindern. Sie behaupteten, dass Diego Suarez durch Bomben zerstört wurde und es viele zivile Opfer gab.
Ein anonymer britischer Offizier, der Französisch sprach, beschloss, einen leistungsstarken Sender zu nutzen, der sich an Bord der HMS Winchester Castle befand. Ein Studio wurde in der Kabine 136 eingerichtet, und ein Signal Sergeant half ihm bei der Technik. Der Schiffssender wurde auf die Frequenz von Radio Tananarive abgestimmt. Sobald die französische Station abends ihre Sendungen beendete, schaltete der Offizier den Sender auf der Winchester Castle ein und öffnete das Mikrofon: “Hallo, Hallo, hier spricht Radio Diego-Suarez, bleiben Sie dran. Ein englischer Offizier spricht zu Ihnen.” Dann informierte er die Bewohner von Madagaskar, dass die Situation in Diego-Suarez normal war und es keine zivilen Opfer gegeben hatte. Auch las er 25 Berichte von Zivilisten vor, um die Familien zu beruhigen. Diese Informationen wurden danach dankbar auch von Radio Tananarive übernommen.
Ursprünglich sollte Radio Diego-Suarez nur ein paar Mal senden, aber aufgrund seines Erfolgs beschloss man das Experiment zu verlängern. Die vorzulesenden Texte des Offiziers wurden durch den französischen Koch an Bord überprüft und sprachlich verfeinert. Radio Diego-Suarez konnte schließlich regelmäßig auf Sendung gehen. Abends beendete Radio Tananarive seine Programme mit der Marseillaise, und kurz darauf startete Radio Diego-Suarez sein Programm ebenfalls mit der Marseillaise. Persönliche Nachrichten für die Bevölkerung wurden verbreitet, außerdem nützliche Informationen und eine Sendung namens “Paroles de Churchill”, die darauf abzielte, die Propaganda des Vichy-Regimes zu korrigieren.
Das Schiff verließ den Hafen drei Wochen nach der Landung und fuhr nach Mombasa und anschließend nach New York. Deshalb errichtete man ein Studio an Land in einem ehemaligen Kino. Radio Diego-Suarez sendete auf Französisch, aber auch auf Malagasy, und die Musikprogramme wurden vielfältiger. Am 5. November 1942 eroberten die britischen Truppen Tananarive. Radio Diego-Suarez stellte daraufhin seine Sendungen ein.
Martin van der Ven (2024)
Quellen:
Harold Ettlinger: The Axis On The Air. Indianapolis – New York 1943.
https://www.worldradiohistory.com/BOOKSHELF-ARH/History/The-Axis-On-The-Air-Ettlkinger-1943.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy-Regime